Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 411 Stellung, und hoffentlich seien die Zeiten vorbei, in denen dies leider in Europa geschehen sei! — Lehrer Benesch polemisiert dagegen und gegen Mundelein. Winter tritt wärmstens für Mundelein ein: sein Ausspruch über den Tape­zierer sei typisch volkstümlich gewesen und habe allgemeine Zustimmung gefun­den. „Ich glaube nicht an den Freimaurer-Mytho s“. Koutny 39) berichtet mir über den Vortrag Winters im Konzerthaus (8. XII. 1937; ebenso Fischer). 2/3 des Publikums Juden, die besonders demonstrativ applaudierten, als Winter die sozialdemokratischen Wiener Wohnhäuserbauten als vorbildlich für Amerika bezeichnete. Beim Hinausgehen gingen zwei Juden hinter Koutny. Er hörte, wie der eine sagte: „Er war der einzige von uns im Gemeinderat, und den haben sie hinausgeworfen“. (44) [Bei Bundespräsident Miklas]. Auf Drängen besonders von Dr. Müller (Hasnerstraße) richte ich am 7. Jän­ner 1938 ein Schreiben an Bundespräsident Miklas des In­halts: Ich erbitte die Möglichkeit einer Darlegung von Auswegen aus dem sozia­len, wirtschaftlichen und biologischen Absterben. So könne es doch nicht wei­ter gehen. Darauf erhalte ich am 21. II. 1938 Einladung für Mittwoch 23. II. V2 11 Uhr. Die Unterredung dauerte etwa bis % 12. Ich begann damit, daß durch die letzten Ereignisse die von mir im Schreiben vom 7. Jänner ausgesprochene Dringlichkeit der Sozial- und Wirtschaftsreform um ein Vielfaches verstärkt worden sei. Mit dem Ständebau sei noch gar nicht begonnen, wie Ender mir bestätigt habe. „Wir haben noch gar keine Stände“ (Miklas nickt zustimmend). Wo die Leute sich selbst zu helfen begannen, wie mit den Tausch- und Rechen­wirtschaften, die Kaufkraftbildung ohne Kreditgeld ermöglichten, Häuser bau­ten, Schulden zurückzahlten, wurde dies gesetzlich unterdrückt (wieder nickt Miklas zustimmend). Die Wirtschaft schrumpfe immer mehr. So könne es doch nicht weitergehen. Wir seien ein sterbendes Volk und Land. Deshalb käme ich zu ihm, der ja doch das Regierungssystem bestimme. — Kaum hatte ich das gesagt, als Miklas in höchster Erregung auffuhr: „Nein! Nein! Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Das Volk wird belogen und betrogen! Ich bestimme gar nichts!“ Dabei und während des Folgenden schrie er so laut, daß die Stimme fortwährend überschlug, mit hochrotem, verzerrtem Gesicht, schlug immer wie­der mit der Faust auf den Tisch, mit den Händen, die in der Luft herumfuchtel­ten, auf die Oberschenkel. „Wir haben einen Majordomus. Ich habe ebenso viel zu reden wie der re piccolo 40). Und der hat noch mehr zu reden als ich. Ich bin der Alte im Ausgeding. Ich kann nur mahnen, warnen, aber man hört nicht auf mich. Man hat mit dem Rumpfparlament eine Verfassung gemacht, die ungültig ist. Wo in aller Welt gibt es einen Staat, dessen Verfassung nicht einmal die Unterschrift des Staatsoberhauptes trägt? Die Maiverfassung hat nicht meine Unterschrift. Ich bin mit dem ganzen Gewaltsystem von Anfang an nicht ein­verstanden gewesen. Aber man hört nicht auf mich. Ich bin der Alte, den man beiseite schiebt. Und doch bin ich der einzige Rechtmäßige noch. Ich bin vom Volk gewählt, alle anderen sind es nicht. Von all dem weiß das Volk nichts. Ich wollte ja schon zurücktreten; aber ich bin der Schutzengel Öster­reichs. Man hat mich schon aufgefordert, meine Memoiren zu schreiben, aber die würden den Staat sprengen, das kann ich nicht. Aber später werde ich sie doch schreiben. Man hat die Parteien zerschlagen und an ihre Stelle die Gewalt 39) Berufsschuldirektor Franz Koutny, Schulrat, geh. 1890, einer der ältesten Mitarbeiter der Orel-Bewegung. 40) Spitzname des italienischen Königs Viktor Emmanuel III. (1900—1946.)

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