Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
Tagebuch Orel 397 ben Sie nur nicht, daß wir uns in dieser Beziehung einer Täuschung hingeben. Ich flehe unsere Pfarrer an: Bildet Zellen! Es ist die höchste Zeit! Aber das geht alles so langsam! Wir arbeiten ja fieberhaft, aber die katholischen Organisationen versagen! Jeder denkt nur an sich. Drei Viertel unserer Arbeit (als katholische Aktion) geht auf innere Reibungen und Schwierigkeiten auf. Wir kommen nicht vorwärts. Was hat uns die katholische Frauenorganisation für Arbeit gemacht; die war beim „Phönix“ versichert!“ — Alle meine Einwendungen konnten ihm nicht andere Einsicht vermitteln. Er blieb dabei: „In der Beurteilung der Sachlage stimme ich mit Ihnen völlig überein;“ ein öffentliches Auftreten sei durch die Zensur unmöglich gemacht und was geschehen könne, geschehe ohnehin. — Das heißt: wir taumeln mit offenen Augen dem Abgrund zu, aber wir tun nichts, um unseren Sturz hinein zu verhindern — denn wir wollen doch nicht offene Opposition und uns dadurch mißliebig machen. Also: bürokratischer Josephinismus! (23) Abt Wiesingers Verzweiflung25). Auf dem Weg in die Schweiz besuchte ich am 14./15. November 1936 und auf der Rückreise am 19./20. Dezember Abt Wiesinger in Schlierbach. Ich wollte mit ihm eine Aktion zur Rettung vor der drohenden Katastrophe besprechen. Er lehnte jede Beteiligung ab. Er sagte, die Katastrophe sei unabwendbar, er sei vollkommen darauf gefaßt, bei ihrem Eintritt ermordet zu werden. Aber jede Aktion dagegen sei utopistisch, weil sie sich gegen die herrschenden Tagesmächte nicht durchsetzen könne. Es sei den geistlichen wie den weltlichen Autoritäten gar nicht ernst mit dem Willen zur Rettung und sie erkennten auch nicht den Ernst der Lage. Man schwätze nur oder man wolle gar nicht ernstlich etwas tun. (24) Kleinhappls Pessimismus 26). Am 16. November besuchte ich Professor P. Johannes Kleinhappl in Innsbruck. Er sagte, er sehe die Zukunft ganz schwarz. Die soziale Lage sei in Italien die gleiche wie in Spanien. Im neudeutschen Reich stehe es sehr schlimm. Die katholische Theologie sei liberal infiziert, die infolge unserer Arbeiten eingetretene Wendung, das neuerliche Vordringen der antikapitalistischen Tradition werde sehr lange brauchen, bis es sich durchsetze. Die katholische Kirche werde daher nicht imstande sein, den Bolschewismus überflüssig zu machen. Er werde unaufhaltsam kommen. Das Wiedererwachen der Tradition werde aber diese die rote Flut hindurch bewahren, tragen. Nachher erst werde daraus eine neue Ordnung erwachsen können. (25) Prälat Pfarrer Robert Mäder27) besuchte ich am 27. November und am 10. Dezember 1936 in Basel. Er sagte, er befinde sich in tiefster Depression. Er gebe alles verloren. Es sei nichts mehr zu machen. Auch mit der Jugend sei nichts zu machen. Er habe alle Hoffnung aufgegeben. Der Bolschewismus komme unvermeidlich. 25) Alois Wiesinger (1885—1955), Abt von Schlierbach, von 1939—1946 in Brasilien. Begründer der Lehre des „Operismus“, die — antikapitalistisch — der Vogelsang-OreVsehen Schule sehr nahe stand. 26) Johannes Kleinhappl, geb. 1893, zeitweise Mitglied des Jesuitenordens, 1947—1954 Professor für Moraltheologie an der Universität Innsbruck, Vertreter einer streng antikapitalistischen Gesellschaftslehre. 27) Pfarrer Robert Mäder, Chefredakteur der schweizerischen katholischen Wochenschrift Die Schildwache, heute vereinigt mit der Zeitschrift Neues Volk.