Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 389 (9) „B e s i t z t e u f e 1“ und Siedler. Am 15. Jänner 1924 wurde im Ausschuß für Sozialpolitik ein Bestandsver­trag der Gemeinde mit der Kleingartensiedlungsgenossenschaft „Altmannsdorf- Hetzendorf“ über die von der Gemeinde errichteten Siedlungen „Simmering“, „Kagran“ und „Hermeswiese“ vorgelegt, dessen § 12, 1, lautet: „Jedem der beiden Vertragsteile steht es frei, das Bestandsverhältnis mit Einhaltung einer sechsmonatlichen Kündigungsfrist für den 31. XII. eines jeden Jahres zu kündige n“. Ich erkundigte mich um den genauen Sinn dieser Bestimmung. Stadtrat Weber bestätigte meine Befürchtung: Die Gemeinde kann ohne einen Grund auch nur anzugeben, die Genossenschaft und mit ihr auch alle einzelnen Siedler jederzeit kündigen und von Land und Haus fortweisen, hat also die Genossen­schaft und sämtliche Mitglieder hilflos in ihrer Hand. „Das ist Ihr Mieterschutz?“ entgegnete ich. Darauf Weber: „Sie scheinen das Mieterschutzgesetz nicht zu kennen. Für Neubauten gibt es keinen Mie­terschutz. Selbstverständlich kann man sich nicht dem Zufall ausliefern; denn es ist ein Zufall, wer gerade in den Besitz eines Schreberhauses kommt. So haben wir eine klare Rechtslage. Ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen: Sie wollen den Besitzteufel in den Leuten lebendig machen“ a). Als Weber erklärte, die Gemeinde könne den Anforderungen nach Siedler­stellen nur in geringem Maß nachkommen, bemerkte ich: „Darum bauen Sie Massenmietkasernen!“, worauf Weber sehr erregt entgegnete: „Sie möchten am liebsten aus Wien ein großes Dorf machen“. Selbstverständlich wurde der Vertrag in der vorgelegten Fassung von der Mehrheit beschlossen. (10) Nachtlokale. In einer Landtagssitzung hielt St. R. (= Stadtrat) Rummelhart, Ob­mannstellvertreter des christlichen Klubs, eine Rede gegen gewisse Steuern, insb. die Nahrungs- und Genußmittelabgabe und die Lustbarkeitsabgabe. Von den Wiener Nachtlokalen, ursprünglich gegen 180 an der Zahl, hätten infolge dieser Besteuerung schon rund 70 den Betrieb einstellen müssen. „Man kann ja über diese Lokale verschiedener Meinung sein. Aber, meine Herren Kollegen (= Sozialdemokraten), in einer Großstadt muß es solche Lokale geben. Wenn von Ihnen, meine Herren (= Sozialdemokraten), ein Vetter vom Land nach Wien kommt, dann wollen Sie doch was zeigen. Der will doch was sehen. Wo wollen S’dann den hinführen?“ Finanzreferent Stadtrat Breitner, ein sozialdemokratischer Jude, früher Bankdirektor, fertigte Rummelhart bloß mit den Worten ab: „Ich habe bisher nicht gewußt, daß die christlichsoziale Partei ihren Wiederaufbau mit Hilfe der Nachtlokale durchführen will!“ (11) Die neue Bewegung. Juni 1929 „Katholisch-Soziale Tagung“ in Wien, von Wien, von den Modemisten veranstaltet. Folge dessen: Bildung der Studienrunde katholischer Sozio­logen. Anregung im Kreuzbündnis. Zuerst wurde eine Tagung geplant. Dann erkannte man die Notwendigkeit, diese Tagung durch Ausarbeitung eines ge­meinsamen Programmes der antikapitalistischen Richtungen vorzubereiten. Am 9. November 1929 fand die 1. konstituierende Sitzung der Studienrunde im Kapitelsaal des ehern. Barnabitenklosters, Wien I., Habsburgergasse 12, statt. ») Der nächste Satz von Orel gestrichen: „Sie möchten am liebsten aus ganz Wien ein Dorf machen.“

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