Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
388 Ernst Joseph Görlich bissen und vom Wein bei dem ersten Klub-Festessen (an dem ich nicht teilnahm) zu schwärmen. Dabei kommt er schwärmerisch auf die vergangenen Zeiten zu sprechen, phantasiert von dem alten „Linagraben“, dem [er] besonders nachrühmt: „Das war unser Stundenhotel — in unserer Jugendzeit“. Usw. ohne Ende. Bei der Silvesterfeier kam Stöger in seine nächste Nähe zu sitzen. Das Gespräch drehte sich in dieser Gegend ausschließlich ums Essen und Trinken. (6) Silvesterfeier 1923. Ein verhältnismäßig einfaches Abendessen im Rathauskeller. Excesse kamen nicht vor. Kunschak hielt eine nichtssagende Lobrede auf die alten und die neuen GR, welch letzteren er glänzende Leistungen in der Budgetdebatte nachrühmte (hohe Klugheit und Gewandtheit); Rummelhart strudelte Kunschak an; Kienböck sang das abgedroschene Lied von der Sanierung und bewunderte sich und Seipel. Von Ideen, Programm, Zielen wurde nicht eine Silbe geredet. Mit Hemala hatte ich ein Gespräch, in dem er mir sagte: „Deine großen Zeiten waren, als du dich um die Ärmsten annahmst. Du hast doch die Lehrlinge von der Straße aufgelesen!“ Ich: „Und gerade diese Tätigkeit habt Ihr ja erschlagen!“ Er darauf höchst erregt: „Keine Rede!“ Aber er konnte sachlich nichts mehr Vorbringen, als ich ihn darauf verwies, daß der Kampf gegen uns doch gerade deshalb aufgenommen wurde, weil wir für die Rechte der Lehrlinge gegen deren Vergewaltigung mit Energie eintraten. Ich fragte ihn, wie er in die Zukunft sehe. Er entgegnete: „Manchmal bin ich wochenlang ganz pessimistisch und verzweifelt. Dann habe ich wieder Zeiten, in denen ich alles rosig sehe“. Ich entgegnete: „Ich sehe ganz klar in die Zukunft. Die einzige Rettung ist, daß wir die Jugend wieder in unsere Hand bekommen. Sonst ist alles verloren. Ich begreife nicht, daß Ihr gerade uns, die tüchtigsten Kräfte, abstoßen konntet, statt sie zu fördern“. Er schwieg ganz betroffen. Der bloße Gefühlsmensch, Leidenschaft ohne Kopf. Als ich über die Zusammensetzung des Gemeinderatsklubs klagte, meinte er: es sei ohnehin schon viel besser geworden, denn es sei schon stark ausgemistet worden. (7) Franz Jenschik. Franz Jenschik kam erneut [am] 19. November 1923 nach der ersten Stadtschulrats-Plenarsitzung auf mich zu und sang ein Loblied auf unsere Jugendbewegung: „Existiert Ihr Jugendblatt noch? Das war halt ein ausgezeichnetes Blatt, so klar und entschieden! Es war mustergültig. Wenn man damit die ,Reichspost“ vergleicht, so wird einem der ganze Unterschied klar. Die ,Reichspost“ wird niemanden zum Christlichsozialen machen. Schade, daß Sie sich in der christlichsozialen Partei nicht durchsetzen konnten! Das heißt: für uns war das natürlich sehr gut. Ihre Bewegung hätte uns sehr gefährlich werden können“. (8) Demokratie. Am 4. Dezember 1923 erstattete der sozialdemokratische GR Hartmann im Ausschuß für Sozialpolitik und Wohnungswesen ein „Referat“, in dem er einen Magistratsbericht und -Vorschlag derart unverständlich und ohne geringstes Verständnis verlas, daß er zuverlässig keine Ahnung hatte, worüber er referierte. Am 22. Jänner 1924 im Stadtschulrat, 3. Abteilung, die Jüdin Dr. Bauer (die Frau Otto Bauers) über ein Subventionsgesuch der Handelsschule der Hietzinger Lyzeumsgesellschaft in derart fremdem Jargon, fast jiddisch, daß man sie nicht verstand.