Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 385 erzogen und in 20 Jahren denkt niemand mehr an die Mo­tt a r c h i e“. Im August oder September 1920 hatten Germ und ich mit Seipel eine Unterredung in Angelegenheit unseres Kompromißangebotes an die christlich­soziale Partei. Am 11. Juni war die christlichsozial-sozialdemokratische Koali­tion unserem Ansturm erlegen. Seipel rühmte ihr nach: Sie haben doch auch große Verdienste, so insbesondere die Vermeidung des Kultur­kampfes. Höchst erregt entgegnete ich, ob denn Glöckels Vorgehen in den Schulen nicht Kulturkampf bösester Art gewesen wäre. Mit einer geringschät­zigen Handbewegung erwiderte Seipel: „Was kann uns Glöckel schaden? Sehen Sie sich unsere Mittelschülerorganisation an. War nie so blühend wie jetzt. Die Sozialdemokraten selbst machen sich über die Kultur­kampfgelüste Glöckels und Leuthners lustig und reden mit einem Achselzucken von ihnen als den .liberalen* Sozialdemokraten“. Ich darauf: „Und die roten Juden, die Bauer, Adler, Austerlitz wollen das Christentum nicht bekämpfen?“ Seipel: „Was fällt Ihnen ein! Die haben ganz andere Sorgen. Die zerbre­chen sich die Köpfe darüber, wie sie uns wirtschaftlich helfen könnten. Die Religion ist ihnen ganz gleichgül­tig!“ Ich war starr und setzte die Brörterung über dieses Thema nicht weiter fort. Während der langwierigen Einigungsverhandlungen zwischen unserer Volkspartei und der christlichsozialen Parteileitung begab ich mich am 23. Jän­ner 1922 zu Seipel, um die Entscheidung herbeizuführen. Er machte Zusagen, ließ aber, trotz eines Briefes vom 1. Februar, in dem ich urgierte, nichts mehr von sich hören, so daß wir am 19. Februar über alle Verhandlungen hinweg die Volkspartei auflösten und in die christlichsoziale Partei einzutreten beschlossen. Am 31. August 1923 hatte ich mit Seipel eine Unterredung wegen der be­vorstehenden Wahlen. Er erklärte, daß die christlichsoziale Parteileitung einer Kandidatur meiner Person für den sog. Nationalrat keinerlei Schwierigkeiten bereitet habe, auch nicht bereiten werde, lehnte aber jegliches Eingreifen zu Gunsten unserer Kandidaturen für Nationalrat und Gemeinderat durch ihn ab. Es sei unsere Sache, uns durchzusetzen. Bei dieser Gelegenheit zeigte er sich über die tatsächlichen Verhältnisse, Kraftverteilung usw. im christlichsozialen Parteilager gründlich unorientiert, von irrigen Meinungen erfüllt. So z. B. meinte er, daß wir es nicht verstanden hätten, uns bemerkbar zu machen, behauptete dies auch mit besonderem Bezug auf die Wieden, wo Oberst Hussarek einen ungeheuren, organisierten Anhang habe, während wir gar nicht in Betracht kämen. Er war sehr erstaunt, als ich ihm erklärte, Hussarek habe überhaupt keine Organisation hinter sich, wohl aber Stöger eine starke. Er blieb dabei: Hussarek habe sich durchgesetzt und den Bezirk hinter sich. (Tatsächlich fiel er dann mit seiner Kandidatur durch, wäh­rend Stöger seine Wahl gegen Kunschaks heftigsten Widerstand durchsetzte). Seipel erklärte mir weiter seine Politik in der Weise: der Wagen sause auf kurvenreicher Straße mit großer Schnelligkeit dahin; um ihn am Umkippen zu hindern, müsse man sich bei jeder Kurve nach der entgegengesetzten Rich­tung neigen als die ist, nach der er umzukippen drohe. Daher verfolgt jetzt die Partei bewußt und gewollt einen kapitalistischen Kurs, um die bolschewistische Gefahr zu bannen. Das erklärte er mir mit triumphierend leuchtender Miene und er wiederholte es bald noch einmal. In Zusammen­hang damit erörterte er seine Bündnisbestrebungen den Juden und Großkapi­talisten gegenüber und meinte: „Man muß da manches mithereinnehmen, was in grundsätzlicher Hinsicht nicht, ja sicher nicht hinein gehört. Aber das hat der Partei nie geschadet. Es muß nur dafür gesorgt werden, daß Mitteilungen, Band 26 25

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