Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)
GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel
384 Ernst Joseph Görlich Gaskammern hat Anton Orel keinen Augenblick auch nur im Traum gedacht. Eher könnte man ihm unterstellen, er hätte im Besitz der Macht eine radikale Judenmissionierung versucht. Die Frage, ob Orel Faschist im Sinn von Ernst Noltes Definition 14) gewesen sei, kann absolut verneint werden. Er gehört trotz seiner oft radikal anmutenden Äußerungen in die Tradition des österreichischen katholischen Konservativismus. III Das im nachfolgenden zur Gänze veröffentlichte ,,Tagebuch“ Anton Orels ist bis auf eine kurze Stelle 4) noch nicht veröffentlicht. Das Original erliegt im Archiv der Anton-Orel-Gesellschaft. Es handelt sich um ein Taschenbuch im Format 9,2 X 15 cm. Die Texte sind mit der Hand geschrieben und die verschiedene Färbung der Tinte zeigt, daß es sich um Aufzeichnungen aus verschiedenen Zeiten handelt. Doch kann nicht ausgeschlossen werden, daß einzelne zusammenhängende Kapitel von Orel später als Gedächtnisstütze für eine spätere Biographie im Zusammenhang (also nicht unmittelbar nach jeder Unterredung) geschrieben wurden. Das erklärt auch die Zwischenräume, die zwischen den einzelnen Teilen liegen. Auf jeden Fall ist aber ein beträchtlicher Teil — vor allem in der zweiten Hälfte — als unmittelbares „Tagebuch“ verfaßt worden. Einige Namen sind schwer zu entziffern. Die Numerierung und die Überschriften von Kapitel 16, 44 und 47 stammen vom Herausgeber. * * * * (1) Seipel. 25. November 1918. Wenige Tage nach dem Umsturz suchte ich Seipel auf, um seine Stellung zu den Ereignissen kennen zu lernen. Er äußerte sich sehr zuversichtlich über die Republik. Sie werde wohl eine Advokatenrepublik sein; aber daß es mit der Republik ausgezeichnet gehen werde, zeige das Beispiel Nordamerikas. Mit der Monarchie sei bei uns nichts mehr zu machen gewesen. Auf meinen Einwurf, daß doch Kaiser Karl zu einer Zeit an die Regierung gelangt sei, die ihm eine ersprießliche Wirksamkeit nicht ermöglicht hätte, und daß Kaiser Franz Joseph unzweifelhaft besser regiert hätte, wenn ein ordentliches Parlament vorhanden gewesen wäre, daß aber gerade diese „demokratische“ Einrichtung versagt und ihm ein gesundes Regieren unmöglich gemacht habe, entgegnete Seipel: „Mit Franz Joseph wäre auch bei einem guten Parlament nichts zu machen gewesen. Das monarchische System ist erledigt. Jetzt werden die Kinder republikanisch 14) Vgl. Ernst N o 11 e Der Faschismus in seiner Epoche (München 1963). *) Ein Teil der Unterredung zwischen Bundespräsident Miklas und Anton Orel wurde bereits im ersten Jahrbuch der Anton-Orel-Gesellschaft (Wien 1967) sowie bei Ernst Joseph Görlich Grundzüge der Geschichte der Habsburgermonarchie und Österreichs (Darmstadt 1971) veröffentlicht.