Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

Tagebuch Orel 381 umriß. Der Titel war bewußt in Anlehnung an das Kommunistische Mani­fest gewählt worden. Es darf um der geschichtlichen Wahrheit willen nicht verschwiegen werden, daß Orel eine Zeitlang das Wesen des Nationalsozialismus ver­kannte und in ihm tatsächlich so etwas wie eine „Erneuerungsbewegung“ sah. Allerdings verlangte er von ihm: 1. daß er zu einer „österreichischen“ Bewegung werden müsse (im Sinn der alten habsburgischen Tradition), 2. daß er sich bereit erkläre, die katholisch-kirchlichen Interessen zu den seinen zu machen und 3. daß er das Sozialprogramm Vogelsangs und Orels übernehmen müsse. Aber schon nach der Ermordung von Bundes­kanzler Dr. Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1934 erkannte Orel das Gesicht des Nationalsozialismus. Zur selben Zeit begann die immer schärfer wer­dende Kritik Orels am Aufbau des „Christlichen Ständestaates“. Er warf der Regierung vor, den wahren Ständegedanken mißbraucht und verleug­net zu haben. Um gutzumachen, was seiner Meinung nach verfehlt war, strengte sich Orel 1934—1938 vergeblich an, eine große katholisch-öster­reichisch-soziale Bewegung ins Leben zu rufen. Als am 23. Februar 1936 Orel im Neuen Volk einen Aufsatz unter dem Titel Quadragesimo Anno (Titel des päpstlichen Rundschreibens von 1931) als „Paravento vor dem Kapitalismus“ erscheinen ließ, bedeutete dieser Aufsatz einen vehe­menten Angriff gegen die Regierung Schuschnigg. Nach Bekanntwer­den des Phönixskandals und des Selbstmordes von Generaldirektor Dr. Berliner veröffentlichte Orel am 26. April 1936 einen neuen Arti­kel, in dem eine radikale Säuberung des öffentlichen Lebens verlangt wurde. Daraufhin verbot die Regierung das Orel’sche Neue Volk. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten beugte sich Anton Orel dem Regime nicht. Als er am Grab seines langjährigen Freundes und Mit­arbeiters Josef Germ (1883—1942) eine Rede hielt, die illegal gedruckt und verbreitet wurde, verhaftete man Orel im April 1943 unter der Be­schuldigung der „Neugründung einer verbotenen Partei“. Orel hatte näm­lich die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Österreich ge­fordert und alle Österreicher aufgerufen, dabei mitzuhelfen. Das Gericht verurteilte Orel zu zwei Jahren Festungshaft, die er in Landsberg, am selben Ort wie einst Adolf Hitler, verbrachte. Eine schwere Erkrankung war der Grund, daß er nicht einmal diese beiden Jahre voll abbüßen mußte. Er wurde 1944 provisorisch freigelassen und die Haft bis zu seiner Gesundung ausgesetzt. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs faßte Orel noch einmal Hoffnung, seinen Ideen zum Durchbruch verhelfen zu können. Aber abgesehen von Vorträgen in kleineren Runden, bei ÖVP- Veranstaltungen und in katholischen Kreisen, kam es zu keiner Aktivität mehr. Einen Höhepunkt bildete die Feier von Orels 70. Geburtstag im Jahr 1951, eine repräsentative Veranstaltung, an der bedeutende Person-

Next

/
Oldalképek
Tartalom