Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 26. (1973)

GÖRLICH, Ernst Joseph: Ein Katholik gegen Dollfuß-Österreich. Das Tagebuch des Sozialreformers Anton Orel

382 Ernst Joseph Görlich lichkeiten des kirchlichen und öffentlichen Lebens teilnahmen. Das be­zeichnendste Begebnis dabei war die Aussöhnung zwischen Orel und seinem (seit 1909) langjährigen Gegner Leopold Kunschak. Kunschak sprach die nachdenklichen Worte: „Was hätten wir erreichen können, wenn wir unseren Weg gemeinsam gegangen wären“. Die letzten Lebensjahre Anton Orels waren durch Krankheiten und finanzielle Sorgen überschattet. Er gab aber bis zu seinem Tod am 11. Juli 1959 die Hoffnung nicht auf, daß seine Ideen von späteren Generationen aufgenommen und verwirklicht würden. Zu diesem Zweck setzte er auch das kleine hinterlassene Vermögen und alle Rechte an seinen Werken als Stiftung ein, die einem Kuratorium, der heutigen „Anton-Orel-Gesell- schaft“, mit der Auflage übertragen wurde, seine Bücher und seine Ideen weiter zu verbreiten u). II Anton Orels Wollen ist nur für den vollkommen verständlich, der sich in seinen Gedankengang einzuleben versteht. Diesem Nichteinleben ist auch eine Dissertation zum Opfer gefallen, die in der Wiener Universität erliegt und eine völlige Verständnislosigkeit für Orels Anliegen erkennen läßt* I2). Orels Weltanschauung wurde durch die frühe christlichsoziale Bewe­gung entscheidend beeinflußt. Er machte die spätere Entwicklung der Christlichsozialen Partei nicht mit und warf ihr vor, sich mit dem kapita­listischen System arrangiert zu haben. Den Anschauungen eines Karl v. Vogelsang und eines Prinzen Alois Liechtenstein folgend 13) galt es für Orel nicht nur, die „Auswüchse“ des kapitalistischen Systems zu beseitigen (wie es seiner Meinung nach die spätere Christlichsoziale Partei und die u) Der Sitz der Anton-Orel-Gesellschaft, in deren Händen sich auch ein reichhaltiges Archiv befindet, ist 1090 Wien, Fuchsthallergasse 3. Obmann ist Amtsrat Alfred Stachelberger, 3400 Klosterneuburg, Alleiten 2. 12) Vgl. Dórit Weinberger Die christliche Sozialreform Anton Orels (phil. Diss. Wien 1966). Die Verfasserin war nicht imstande, sich in die Gedan­kenwelt Orels einzuleben. Insbesondere verrät sie eine bedauerliche wissenschaft­liche Unobjektivität, wenn sie Orels Vorliebe für den österreichischen Kultur­philosophen Richard v. Kralik (1852—1934) für „borniert“ erklärt (Nachwort der Dissertation). Wir weisen nur im Gegensatz zu ihrer Beurteilung darauf hin, daß sich Hugo v. Hofmannsthal als auf dem Boden der Kralik’schen Kultur­auffassung stehend bekannte, und daß sich Ernst Alker Geschichte der deut­schen Literatur seit Goethes Tod 2 (Stuttgart 1950) 245 ff sehr anerkennend über Kraliks Wirken äußerte. Jedenfalls ist es völlig unzulänglich, die soziale Auf­fassung eines Mannes mit seiner literarischen zu koppeln. is) Alois Prinz Liechtenstein schreibt in seiner Studie Das Reich der Römer (Wien 1899) 8: „Der Kapitalismus war genau dem entgegengesetzt, was die christlichen Völker gewünscht hatten“.

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