Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24. (1971)

SCHMID, Georg E.: Die Coolidge-Mission in Österreich 1919. Zur Österreichpolitik der USA während der Pariser Friedenskonferenz

444 Georg E. Schmid unterwegs, die die Aufgabe hatte, sich über die Versorgungsprobleme, vor allem im Hinblick auf die Nahrungsmittellage, zu orientieren. Diese Mission wurde von Botschaftssekretär Hugh Gibson begleitet, der später, nach der Rückkehr dieser Mission nach Paris, einen Bericht über die politischen Zustände in den Ländern der ehemaligen österreichisch­ungarischen Monarchie abfaßte40). Es ist nicht ohne Interesse, die Bob­achtungen Gibsons mit jenen Coolidges zu vergleichen, da sich Methode der Informationssuche und Art und Weise der Urteilsbildung in vielen Punkten erheblich unterschieden. Gibson hatte offenbar keine besonderen Vorkenntnisse historischer, geographischer oder politischer Natur in bezug auf die in Frage stehenden Gebiete, sein Urteil beruhte wohl mehr auf dem „common sense“ als das des Harvard-Professors, der ja seine Mission geradezu wissenschaftlich aufzog. Gibson bereiste im Laufe des Jänners die meisten Gebiete Alt-Österreichs, er kam unter anderem nach Wien, Prag, Triest, Agram, Fiume, auch Budapest, etc. Gibsons Memorandum zeigt im Vergleich zu den wissenschaftlich-küh­len, niemals an der Oberfläche engagiert klingenden Berichten Coolidges ebenso auffällige Analogien wie auch Divergenzen. Durchaus nicht über­einstimmend etwa zeigte sich das Urteil über die österreichischen Politi­ker, von denen Gibson aussagte, es seien „no well qualified potential leaders ... in evidence“ 41). In diesem Punkt hatte es Coolidge leichter, zu einem gerechten und weniger pauschalen Urteil zu gelangen, da er sich ja fast ausschließlich in Wien aufhielt und mehrere Male mit den deutsch­österreichischen Politikern persönlich konferierte. Doch in den großen Grundlinien, die sich einerseits in dem kurzen Memorandum Gibsons und andererseits in den zahlreichen, oftmals sehr fein differenzierenden Berichten Coolidges manifestieren, bleibt immerhin eine erstaunliche Übereinstimmung zu konstatieren, die umso mehr auffallen muß, wenn man Herkunft, Arbeitsweise und Ansichten dieser beiden Männer ver­gleicht. Die Eindrücke, die Gibson der American Commission to Negotiate Peace in Paris vermittelte und die er vielleicht selbst als nicht besonders tiefgreifend verstanden wissen wollte, geben mit einer immerhin beacht­lichen Genauigkeit Grundstimmungen und -gegebenheiten wieder, von denen Mitteleuropa damals bestimmt war. Das Verhalten der Menschen in den bereisten Gebieten, schrieb Gib­son etwa, wäre gleichsam wie nach einer schweren Naturkatastrophe. Vie­len fiele es vor allem schwer, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Für manche Schichten der Bevölkerung wäre es ein tiefgreifendes Pro­blem, nach Mißachtung der „subject races“ diese nunmehr nicht nur gleichberechtigt, sondern sogar besser gestellt zu sehen als sich selbst. 40) Memorandum by the Secretary of the Embassy in Paris (Gibson) for the Secretary of State, Paris (ca. 1919 Feber 1): FR PPC 12, 228—232. 41) Ebenda 228.

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