Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 23. (1970)

GARDOS, Harald: Ballhausplatz und Hohe Pforte im Kriegsjahr 1915. Einige Aspekte ihrer Beziehungen

288 Harald Gardos angewiesen waren. Hier liegt der Schlüssel zu ihrer Entscheidung, den Krieg tatsächlich zu wagen. Gerade die Aufhebung der Kapitulationen stärkte ihren Rückhalt bei der Öffentlichkeit, ließ sie in ihren Entschei­dungen freier werden. Noch vor ihrem Kriegseintritt, Mitte Oktober, begann die Pforte, ihre Absichten auch praktisch durchzuführen. Eine Hauptkonsequenz ihres Beschlusses schien ihr die Abschaffung des Schutzrechtes, und zwar aller Staaten 1S9). Dies stellte die Donaumonarchie, die doch ein Verbündeter der Türkei war, vor schier unlösbare Probleme hinsichtlich ihrer Kolonien, geistlichen Institute und Schulen im Orient. Ein Beauftragter des Außen­ministeriums in Konstantinopel, H. Albertall, schlug daher vor, die günsti­ge politische Situation auszunützen und von der türkischen Regierung Ge­genleistungen für die ihr geleisteten Dienste zu fordern 17°). Markgraf Pallavicini erklärte diese Idee im Augenblick für undurchführbar, da mit einem Entgegenkommen von türkischer Seite nicht zu rechnen war. Außerdem riet er davon ab, die Kirchen- und Schulfrage aus dem ganzen Komplex herauszugreifen, und empfahl, sie in spätere Verhandlungen ein­zubeziehen * 171). Die Türken waren mit der Eliminierung des französischen Kultusprotektorats beschäftigt und leisteten allen betreffenden Interven­tionen heftigen Widerstand; am 25. November 1914 ordneten sie die Schließung der englischen, französischen und russischen Unterrichtsan­stalten im ganzen Reich an 172). Gegen die Feindmächte konnte man ja ungehindert durchgreifen, nur auf die Verbündeten und die bedeutende­ren Neutralen mußte man doch Rücksicht nehmen. Gerüchte von effek­tiven Christenverfolgungen veranlaßten selbst die Kurie zu der Bitte an das Wiener Kabinett, sich der Interessen der Katholiken im Osmanischen Reich anzunehmen. Dies nahm Berchtold, der ansonst keine sehr selb­ständige Orientpolitik verfolgte, zum Anlaß, die Ausbreitung des öster­reich-ungarischen Einflusses in Angriff zu nehmen. Die Möglichkeit hie­zu bot die Ausschaltung der Franzosen, und durch das alte Kultusprotek­torat der Donaumonarchie glaubte der k. u. k. Außenminister auch eine geeignete Rechtsbasis zu besitzen. Da die Kapitulationen aber desgleichen für das Kaiserreich aufgehoben waren, stellte er es seinem Botschafter an­heim, den früheren französischen Schutz in den einzelnen Fällen wirk­sam zu ersetzen173). In diesem Zusammenhang wies er besonders auf die Stellung seines Landes als katholische Großmacht hin, rechnete je­doch bereits mit starker deutscher und italienischer Konkurrenz 174). 169) pa XII 315 fol. 2: Ber. 77, 19. X. 14, Ranzi (Damaskus) an Berchtold. 17°) A. a. O. fol. 7: Eingabe, 21. X. 14, H. Albertall (Konstantinopel) an Literarisches Büro des Außenministeriums. 171) A. a. O. fol. 14 f: Ber. 67/C, 14. XI. 14, Pallavicini an Berchtold. 172) pa I 978 (Krieg 34) fol. 2: Wiener Fremden-Blatt 25. XI. 14, S. 3. 173) A. a. O. fol. 19 f: Erlaß 5551, 9. XII. 14, Berchtold an Pallavicini. ui) A. a. O. fol. 48: Tel. 940, 16. XII. 14, Berchtold an Hohenlohe.

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