Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 23. (1970)

GARDOS, Harald: Ballhausplatz und Hohe Pforte im Kriegsjahr 1915. Einige Aspekte ihrer Beziehungen

Ballhausplatz und Hohe Pforte im Kriegsjahr 1915 287 türkischen Regierung selbstverständlich abgelehnt. Das Ergebnis der Bal­kankriege verringerte schließlich den Schutzbereich der Monarchie be­trächtlich, nur mehr in Albanien konnte sie gewisse Ansprüche geltend machen. Auch rückten diese Fragen gegenüber den großen weltpolitischen Ereignissen völlig in den Hintergrund. Doch das Werben um ein Bünd­nis mit und um den Kriegseintritt der Türkei ließ die Zentralmächte be­reits wieder mit dem Gedanken an die Kapitulationen spielen. Im Gegen­satz zu ihrer späteren Haltung stellte die deutsche Reichsleitung in den ersten Augustwochen dem Osmanischen Reich die Abschaffung dieser drückenden Rechtsverträge in Aussicht; auf türkische Anfrage schloß sich Berchtold den Anträgen des Verbündeten an 164). Sehr ernst gemeint war dieses Lockmittel wohl nicht, da es erst nach einem vollständigen Sieg der Mittelmächte in Kraft treten sollte. Die Türkei aber gedachte sich eher in den Besitz der Vergünstigungen zu setzen, am 9. September 1914 hob sie durch einseitigen Beschluß die Kapitulationen auf, ohne vorher irgendwo Rückfrage zu halten. Es kam auf Anregung Pallavicinis, in seiner Eigenschaft als Doyen des diplomatischen Korps in Konstantinopel, durch Vermittlung des italienischen Botschafters zu einer gemeinsamen Protestnote der sechs Großmächte, die Interesse an der Aufrechterhal­tung der alten Bestimmungen hegten. In derselben wurde festgestellt, daß die Kapitulationen überhaupt nicht aufgehoben und die Schritte der Pforte daher nicht anerkannt werden könnten 165). Die Jungtürken hatten den großen Sprung nach vorn getan, selbst ein letztes, wenn auch rein formelles, einheitliches Auftreten der Ver­treter des traditionellen Imperialismus konnte ihn nicht mehr verhindern. Nunmehr versuchten die Ententemächte, insbesondere Rußland und Frank­reich, den türkischen Aspirationen entgegenzukommen, wobei sie sich je­doch auf die wirtschaftlichen Kapitulationen beschränkten. Den Mittel­mächten entgingen diese Unterhandlungen nicht166), Berchtold sah sich genötigt, der Pforte gegenüber eine passive Haltung in der strittigen Fra­ge einzunehmen, Pallavicini erhielt die Anweisung, der osmanischen Re­gierung seine Unterstützung bei ihren Bestrebungen zumindest zu ver­sprechen 167). Die Türkei schien weiter in ihrer Neutralität verharren zu wollen, da sie eine endgültige Zustimmung der Entente erhoffte 168). Diese zeigte sich aber nicht geneigt, auf sämtliche Vorrechte zu verzich­ten, so daß die türkischen Machthaber nun vollends auf die Zentralmächte 164) Alfred Francis Pribram Austrian Foreign Policy 1908—1918 (Lon­don 1923) 71. iss) pa XII 207 fol. 518: Tel. 563, 9. IX. 14, Pallavicini an Berchtold. — PA XII 466 fol. 58: Tel. 567, 10. IX. 14, Pallavicini an Berchtold. i«6) A. a. O. fol. 62: Tel. 576, 12. IX. 14, Pallavicini an Berchtold. — A. a. O. fol. 69: Tel. 604, 18. IX. 14, Pallavicini an Berchtold. 161) A. a. O. fol. 60: Tel. 470, 11. IX. 14, Berchtold an Pallavicini. 168) PA XL 312 (Interna Ministerrat) fol. 227: 20. IX. 14, Nr. 518.

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