Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 19. (1966)

WEINZIERL-FISCHER, Erika: Die Bedeutung des Zeitungsarchivs Borgs-Maciejewski für die zeitgeschichtliche Forschung

Rezensionen 557 geschichte erweist, daß er den eben skizzierten Wandel nicht behandelt hat. Die Jahre von 1895 bis 1902 sind ihm „Der Kampf um die Welt­herrschaft“, während die Politik des Imperialismus nicht auf Welt­herrschaft hinzielt, sondern die Aufteilung der sogenannten kolonialen Welt in Interessengebiete zum Ziele hatte. Granfeit ist bei seinen Forschungen, die er in den letzten Jahren betrieben hat, in der Vorstellungswelt der 20er Jahre befangen geblieben, so wie er auch — der Anmerkungsapparat zu allen Kapiteln seiner beiden Bände erweist es — in seiner Quellenbasis nur wenig über die Materialien der „Großen Politik“ hinausgegriffen hat. Damit soll nicht be­stritten werden, daß Granfeit die französischen Aktenpublikationen ein­gesehen hat, Granfeit hat — wie er wiederholt dokumentiert — auch im britischen Record Office und im österreichischen Staatsarchiv geforscht, aber die Verwertung der in diesen Forschungen erarbeiteten Materialien dient nur zur Ergänzung, sie hat das Konzept nicht verändert, welches er sich auf Grund der „Großen Politik“ erarbeitet hat. So löst sich Granfelts Darstellung in eine Kette von Einzelfragen auf, welche er sehr übersichtlich in 28 Kapitel gegliedert hat; er war dabei bestrebt, in jedem Kapitel das an Hand der Dokumente und Litera­turverweise referierte Geschehen in einer Schlußbetrachtung zusammen­fassend zu würdigen. Doch mit dieser Aufgliederung der Darstellung, die in ihrer Einteilung immer wieder von der Gliederung der „Großen Politik“ bestimmt ist, hat Granfeit die Probleme aus ihrer Wechselwirkung heraus­gelöst und sich damit die Einsicht in das eigentliche Geschehen verschlos­sen. Als Beispiel sei nur die Behandlung des so bedeutsamen Jahres 1902 herausgegriffen: Granfeit behandelt das Geschehene des Jahres 1900 bis 1902 in den Kapiteln IX, X, und XI des zweiten Bandes, wobei er zu­erst die Stellung „Englands zwischen Dreibund und Zweibund“, dann den „Abschluß einer französisch-italienischen Entente“ und schließlich „Die Erneuerung des Dreibundes“ behandelt. Von den deutschen Dokumenten der Großen Politik Bd XVI (für Kap. IX), Bd XVIII/1 (für Kap. X) und Bd XVIII/2 (für Kap. XI) ausgehend kommt Granfeit zu der Feststellung (Bd II, S. 240): „Formell war die französisch-italienische Entente mehr gegen England (Tripolis, Marokko) als gegen den Dreibund gerichtet“. Daß das gesamte diplomatische Gespräch der Jahre 1900 bis 1902 von der italienischen Initiative bestimmt ist, daß die gemeinsame Interessen­politik der Italiener, Franzosen und Engländer in diesen Gesprächen die Einflußsphären des Mittelmeers in friedlichem Kompromiß verteilt, daß der italienische Außenminister Prinetti in den Verhandlungen zur Drei­bunderneuerung nicht nur die österreichische Zustimmung zu diesen Ge­schäftsvereinbarungen betr. das westliche Mittelmeer in der österreichi­schen Tripoliserklärung erhält, sondern — allerdings vergeblich — ver­sucht, auch bez. des Balkanraumes zu einer ähnlichen Interessenabsprache zu gelangen, diese Einsicht bleibt Granfeit verschlossen, denn sie ist aus den Dokumenten der „Großen Politik“ nicht erkennbar — und die gesamte neuere Literatur, die sich mit dieser Frage befaßt, ist von Granfeit nicht herangezogen worden. Granfeit hat für die eben erwähnten Kapitel nicht einmal die älteren Arbeiten von J. V. Bredt, Italicus (E. Berger) und

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