Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 16. (1963)
MEZLER-ANDELBERG, Helmut J.: Österreichs „Schwarze Legende“. Zur Kritik an der Habsburgermonarchie durch österreichische Zeitgenossen Erzherzog Johanns
Österreichs „Schwarze Legende 217 dem Ersten Weltkrieg wohl das juristische Kunstwerk seines Staates zu beschreiben, aber nicht es zu deuten vermochte, wie wenig Minus und Maius, die Yernewerte Landesordnung und die Pragmatische Sanktion geeignet waren, eine junge Generation zu begeistern, flammenden Patriotismus zu erzeugen und die Phantasie der Völker zu beflügeln x). Und was für den letzten Abschnitt der Monarchie galt, das blieb in irgendeiner Form nicht minder auch in der Ersten Republik wirksam. In dieser Situation wurzelt etwa auch die Tragik im akademischen Lehramt des an der Grazer Universität in den Jahren 1931—1935 als Ordinarius für Österreichische Geschichte wirkenden Anton Mell (1865—1940), dem es trotz seiner unbestrittenen wissenschaftlichen Qualitäten nicht gelang, seine Studenten mit einem wärmeren Interesse für seinen Gegenstand zu erfüllen. Der Lehrer, dessen Interesse nicht der politischen, sondern vorzugsweise der Geschichte der Rechtsverhältnisse im weitesten Sinne galt, und seine zum Großteil deutschnational denkenden Schüler, die die komplizierte altösterreichische Geschichte schon gefühlsmäßig ablehnten, konnten derart zu keinem gedeihlichen Miteinander kommen * 2). Die heftigen nationalen, staatlich-politischen, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen, denen bis 1867 das Kaisertum Österreich und seit dem Ausgleich die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie ausgesetzt waren, haben im Vielvölkerreich zur Zeit des siegreichen Vordringens nationaler und nationalstaatlicher Ideologien ein stark negativ gefärbtes Österreichbild produziert und die Ausbildung eines den beschränkten Landes- und Heimatgedanken übergreifenden gesamtösterreichischen Volksund Staatsbewußtseins erschwert, das durch die Wirkungen des dynastischen Prinzips keineswegs mehr ersetzt werden konnte. Der Umsturz von 1918 hat es nicht vermocht, hier grundlegenden Wandel zu schaffen, sondern belastete weiterhin je nach der politischen oder weltanschaulichen Richtung das neue Staatsgebilde. Für Viele zog er die Kontinuität der österreichischen Geschichte überhaupt in Frage und rief neue Probleme auf den Plan. Ein Buchtitel wie Reinhold Lorenz’ „Der Staat wider Willen“ (Berlin 1940) beleuchtet schlaglichtartig diese Situation. Das Fortwirken des alten, negativen Österreichbildes und mehr oder minder österreichfeindlicher Tendenzen zeigt auch eine Reihe in dieser Tradition stehender Werke Viktor Bibis. Es kann als ein Charakteristikum der komplizierten historischen Bewußtseinslage gelten, daß die heftige Abwertung des alten Österreich nicht bloß von außen stehenden Gegnern vorgenommen wird, denen man mangelnde Vertrautheit mit der österreichischen Mentalität und den so überaus komplexen geschichtlichen Gegebenheiten zugute halten könnte, sondern von Österreichern selbst. Das erscheint geradezu als ein Wesens1) A. Lhotsky: Österreichische Historiographie. (Österreich Archiv). Wien 1962, S. 199. 2) K. Hafner: Anton Mell (Nachruf). Zs. Hist. Ver. Stmk. 35 (1942), S. 111.