Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 14. (1961) - Festschrift für Gebhard Rath zum 60. Geburtstag
RILL, Gerhard: Die Staatsräson der Kurie im Urteil eines Neustoizisten (1706)
322 Gerhard Rill die „Sekte des Machiavelus“ und die ecclesia militans18). Selbst ein medio termino (Lamberg) ist daher verdammenswert, wenn er ohne Beteiligung der Räson, des Rechtsempfindens und des Gesetzes zustande kommt: ohne virtus kein Kompromiß. Hier zieht nun Lamberg, über Lipsius hinausgehend, die Verbindung zu Gellius: die ohne ratio handelnde Kurie ist stets dort im Vorteil, wo ihr nicht der princeps religens, sondern der princeps religiosus gegenübersteht, wo ihr ein Verstoß des Fürsten gegen die von der ratio geforderte religiöse Mäßigkeit jede Maßlosigkeit, jedes Präjudiz gestattet. Bedenkt man die ungeheure Verbreitung, die das Werk Lipsius’ im 17. Jahrhundert in Wort und Schrift fand19), so erscheinen die deutlichen Spuren des Neustoizismus in der Denschrift eines kaiserlichen Diplomaten zu Beginn des folgenden Jahrhunderts nicht auffällig. Auch wäre es völlig falsch, alle politischen Unternehmungen und Äußerungen Lambergs mit dem Maß der „Constantia“ und der „Politik“ zu messen; aus unseren Kenntnissen über die Tätigkeit des Botschafters 1700—1705 geht klar hervor, daß in den gespannten römischen Verhältnisse dieser Jahre das improvisierte und impulsive Handeln aller Parteien die weise Mäßigung eines Einzelnen nur als Schwäche gekennzeichnet hätten, — wie denn Lamberg selbst auch zugeben muß, daß ihm oft genug von seiner Umwelt das Gesetz des Handelns aufgezwungen worden war. Angesichts der Langlebigkeit und Überzeugungskraft der politischen Ethik des Neustoizismus ist jedoch andererseits nicht daran zu zweifeln, daß diese als Grunddisposition nicht nur in gelegentlichen Reflexionen wirksam war, — wie die gesamte Berichterstattung des Botschafters und noch viel stärker sein abschließendes Urteil über die Kurie erkennen lassen. Der — relativ seltene — Gebrauch historischer Beispiele in der Rela- zione kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lamberg weder nach historischen noch nach psychologischen Gesichtspunkten urteilte. Seine Ansichten stützen sich vor allem auf die in seinen Tagebüchern verzeichneten Fakten, auf eine scheinbare „Sachrichtigkeit“ also, wie sie dem schematisierenden Denken des Neustoizismus entspricht20). Es ist vor allem für die folgende „Charakteristik“ Clemens’ XI. wichtig, diese Denkweise und damit das Fehlen jeder Einsicht in die Gewissenskonflikte, vor die sich dieser Papst gestellt sehen mußte, im Auge zu behalten. Da es jedoch nicht seine Aufgabe sein könne, das Wesen der Kurie zu definieren, —- so setzt Lamberg den vorhin unterbrochenen Satz fort, — sondern ihm vielmehr der Auftrag zuteil wurde, deren gegenwärtigen Zustand zu schildern, behaupte er zunächst, daß der Papst des angenommenen Namens nicht würdig sei, und dies mit folgenden Argumenten: (1) Clemens XI. verhielt sich im Konklave den Kardinälen gegenüber ähnlich wie 18) Cf. Const. I 4 (p. 3 Bl); Pol. I 2 ff. (p. 46 ff.). — Zusammenfassend O e s t r e i c h 41 ff. 19) Saunders 59 ff., O e s t r e i c h 38 ff. 2») Borkenau 187.