Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 11. (1958)
CORETH, Anna: Das Schicksal des k. k. Kabinettsarchivs seit 1945
Rezensionen 599 heit derjenigen historischen Forschung, die das, was sich nie und nirgends begeben hat, beiseite lassen zu dürfen meint. Richter muß hier allein das eigene Verantwortungsgefühl als Forscher und Lehrer bleiben. Die Leichtigkeit, mit der die Materie behandelt wird, täuscht bei Benedikt nirgends über die gründliche Beherrschung der Materie hinweg. Er ist bisher immer zu ihren Quellen gestiegen, hat jahrelang in Archiven gearbeitet und aus ihnen sowie aus der einschlägigen Literatur — welche Werke hat er nicht gelesen? — das Wissen und Vergleichsmaterial geschöpft, das ihm gestattete, gleichsam aus dem Handgelenk die oft kaum gekannten oder genügend gewürdigten Ausgangspunkte und zuletzt entscheidenden Situationen historischer Ereignisse voll sprühenden Geistes festzuhalten. Auch für die vorliegende Geschichte der Franz Joseph-Zeit wären ihm die Schätze des österreichischen Staatsarchivs, vor allem des ihm so vertrauten Finanz- und Hofkammerarchivs, zur Verfügung gestanden. Doch zog Benedikt es diesmal vor, bis auf wenige Ausnahmen aus dem mehr wirtschafts-politischen Bereich (Bayern, Berichte 1862, Nr. 45, Ministerkonferenz- und Ministerrats-Protokolle 1862, 1872), gedrucktes Material auszuschöpfen. Der Grund ist nicht ganz ersichtlich, doch sollte die Arbeit wohl das Format einer „Studie“ nicht übersteigen, und so hat ihr Verfasser fast nur zahlreiche seltener zugängliche und leider fast vergessene Memoirenwerke (Eduard Sueß!), versteckte Zeitungsartikel etc. 2) benützt und das Augenmerk sogar „auf die verläßliche Quelle der Gerichtsakten“ gelenkt (S. 6), die er aber bedauerlicherweise gleichfalls nicht auswertete. Nun hat es natürlich mit den Quellen der Wirtschaft im allgemeinen, soweit sie nicht in den staatlichen Archiven verwahrt werden, eine eigene Bewandtnis, da eine geordnete Archivpflege in den Kreisen der österreichischen Privatwirtschaft und -industrie anscheinend nicht durchsetzbar ist. Sogar die Österreichische Nationalbank besitzt angeblich „selbst kein historisches Archivmaterial“ 3). Es ist nur „ein Aktenarchiv vorhanden ..., das bis auf das Jahr 1816 zurückgeht und für den internen Gebrauch bestimmt ist“ 4). Die Erfahrung jenes belgischen Archivars, dem man die Erlaubnis zur Einsicht in Akten einer alten Hüttengewerkschaft mit der Bemerkung versagte, man würde sie lieber vernichten, als dies gestatten und die Ursachen des Schicksals der Rothschildschen Archive 5) sind eben noch immer durchaus aktuell. Als 1914 Dr. Johann Slokar im Auftrag Paul von Schoellers, des damaligen Präsidenten der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer, seine „Geschichte der österreichischen Industrie und ihre Förderung unter Kaiser Franz I. mit besonderer Berücksichtigung der Großindustrie und unter Benützung archivalischer Quellen“ verfaßt, da kann er nur staatliche Archive benützen. Die Wirtschafts- und 2) Die Zitierung des Werks von Gérard Walter über „Nero“ ist wohl auf ein Versehen zurückzuführen. 3) Rudolf Granichstaedten-Czerva, Die erste österreichische Aktie, in: Wiener Zeitung 1953, Nr. 143. 4) Vgl. den Vortrag des Rezensenten über „Wirtschaftsarchive“ auf dem 32. Deutschen Archivtag in Bremen 1953, in: Der Archivar 6, 1953, Sp. 199—206. 5) Archivalische Zeitschrift 40, 1931, S. 274 ff.