Inventare Teil 5. Band 4. Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1936)

Einleitung

46* Einleitung. Bundesstaates Österreich übergegangen. Ihre rechtmäßigen Verwahrungs­stellen sind daher die Bundeszentralarchive, die ihren Sitz gemäß der Bundesverfassung in Wien1 haben. Aber auch vom wissenschaftlichen Standpunkt können Bedenken gegen die Verteilung dieses Besitzes auf die einzelnen Länder geltend gemacht werden. Gewiß schreibt der Herkunftgrundsatz, der ja, wie nochmals be­tont werden muß, nur ein Ordnungsgrundsatz ist und an sich, wenn er nicht zur Grundlage rechtsverbindlicher Akte gemacht worden ist, keinen eigentumsrechtlichen Anspruch verleiht, die Aufbewahrung der Archive an dem Ort, an dem sie entstanden sind, vor. Bei einer Weiterentwicklung des Herkunftgrundsatzes im Sinne der genetischen Geschichtsbetrachtung muß man jedoch zu der Folgerung kommen, daß nicht der Ort der Entstehung in rein geographischem Sinne allein, sondern auch der Charakter und der Machtbereich der physischen oder juristischen Persönlichkeit, aus deren Geschäftsgang das betreffende Archiv entstanden ist, in Betracht gezogen werden müssen. Diese sind in vielen Fällen das einzige verbindende Ele­ment, da der Ort der Entstehung besonders im Mittelalter vielfach wechselte. Eine Rückstellung der Archivalien an den Ort der Entstehung würde, wenn sie überhaupt restlos durchführbar wäre,1 2 was sehr häufig gar nicht der Fall ist,3 jedenfalls den organischen Zusammenhang des betreffenden Archivs zerstören und so wider die zweite Forderung des Herkunftgrund­satzes verstoßen. Macht man sich diese Gedankengänge zu eigen, so ergibt sich für eine etwaige Verteilung sofort die Schwierigkeit, daß das Herrschaftsgebiet der meisten vor oder neben der habsburgischen Hauptlinie bestehenden staat­lichen Gewalten mit dem Gebiete der heutigen Bundesländer nicht zusam­menfällt. So erstreckte sich das Herrschaftsgebiet des Erzbistums Salzburg außer auf das heutige Land Salzburg auch auf Tirol (Zillertal), Kärnten (Mölltal, Sachsenburg), Steiermark (Leibnitz) und Niederösterreich (Arns­dorf), das der innerösterreichischen Linie des Hauses Habsburg auf Steier­mark und Kärnten usf. Wenn man die Grundsätze des modernen Völker­rechts über die Staatensukzessionen auf diese Verhältnisse an wenden wollte, so käme man zu dem Schlüsse, daß der Rechtsnachfolger der meisten dieser staatlichen Gewalten nicht ein einzelnes Bundesland, sondern der gesamte Bundesstaat ist. Diese und andere Schwierigkeiten zeigen, daß das Problem nur dann wissenschaftlich einwandfrei gelöst werden kann, wenn es in allen seinen Auswirkungen durchdacht wird. Dazu wäre es aber notwendig, nicht bloß 1 Art. 5 der Verfassung von 1920, Art. 6 der Verfassung von 1934, siehe oben S. 45* Anm. 4. 2 So wird es z. B. nur selten möglich sein, die kleinsten Einheiten von Archiv­bildungen, gewissermaßen die Zellen, aus denen sich jedes größere Archiv zusammen­setzt, auszuscheiden. Dies würde schließlich wieder die Zerstörung eines organisch weitergebildeten und zusammengewachsenen Archivkörpers verursachen und den Her­kunftgrundsatz ad absurdum führen. 3 Man müßte das Görzer Archiv nach Schloß Bruck bei Lienz, das Maissauer Archiv nach Maissau, das Pottendorfer nach Pottendorf usf. bringen.

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