Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)

I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias

Reichstagsangelegenheiten, deren schriftliche Erledigung dann allerdings dem Reichssekretär überwiesen wurde120). Zweifellos war diese Geschäfts­führung der Stellung der Reichskanzlei abträglich. Auch die Tatsache, daß Kaiser Mathias oft von Wien abwesend war und die in Wien hinterlassenen deputierten Räte sich dann für die Erledigung ihrer Geschäfte der zu ihrer Verfügung zurückgebliebenen Beamten der österreichischen Expedition be­dienten, mochten dazu beitragen, daß sich diese mehr und mehr verselbstän­digte 121). Daß Khlesl auf die Verselbständigung der österreichischen Kanzlei­abteilung hinarbeitete, darf als sicher betrachtet werden 122). Der Erzkanzler hat später ausdrücklich auf diese Bestrebungen hingewiesen 12s), die bei dem schlechten Verhältnis, das zwischen Khlesl und dem Reichsvizekanzler be­stand, stets neue Nahrung finden mußten. So war der Boden wohl vor­bereitet, auf dem es nach dem Tod Mathias’ zur völligen Trennung der österreichischen Kanzleiabteilung von der Reichskanzlei und zur Errichtung einer eigenen österreichischen Hofkanzlei kommen sollte. Als Mathias am 20. März 1619 gestorben war, traf der Erzkanzler sogleich die für den Fall des Interregnums vorgesehenen Verfügungen zur Sperre der Kanzlei und des Reichsarchivs und erließ an Ulm die nötigen Weisungen 123 a). Ulm berichtete über deren Durchführung und über seine Audienz bei Ferdinand, der sich den Wünschen des Erzkanzlers nach Ein­ziehung aller Akten der Reichskanzlei von den Beamten und nach Sperrung und Versiegelung des Archivs zwar durchaus geneigt zeigte, jedoch die öster­reichischen Akten und die österreichische Registratur mit der Begründung, daß sie nicht dem Reiche, sondern seinem Hause „zuständig“ seien, von diesen Maßregeln ausgenommen wissen wollte. Ulm mußte daher auch die österreichische Registratur, die sich in eigenen Zimmern befand, unversiegelt lassen und begnügte sich, den Erzkanzler zu versichern, daß keine Reichs­akten darin zu finden seien, womit sich auch dieser beruhigte 124). Mochten auch die praktischen Bedürfnisse für die Haltung Ferdinands in erster Linie maßgebend sein und war auch nach dem Tode des Kaisers Rudolf ein ähn­licher Vorgang beobachtet worden, so kündigt sich doch in der Betonung der 12°) Vgl. fol. 8 des Cod. 14391 die Angelegenheiten des Bistumes Metz, das Schreiben des Bischofs von Speyer wegen des Reichtstages und die Privilegienbestätigung des Klosters Andlau. An der Sitzung des geheimen Rates nahm auch der Reichsvizekanzler teil. — Das Protokoll ist größtenteils von dem österreichischen Registrator Bartime Mägerl ge­schrieben, in seinem letzten Teil vom Kanzlisten Neubeck. 121) Erwähnt sei, daß 1615 die bis dahin von der Reichskanzlei versehenen Verhand­lungen mit der Türkei an den Hofkriegsrat übergingen. Der bisherige Kanzleischreiber der Reichskanzlei Gerhard Questenberg, der es später bis zum Vizepräsidenten des Hofkriegsrates brachte, war bereits 1607 vom Hofkriegsrat übernommen worden, nun wurden auch alle älteren, auf die türkischen Angelegenheiten bezüglichen Akten dem Hof­kriegsrat übergeben, vgl. Türkei Collectanea 16 (früher Repertorium Y). 122) Diese Auffassung über die Rolle Khlesls vertritt auch Kretschmayr, Reichs­vizekanzleramt 427; vgl. auch Fellner-Kretschmayr, I/i, 149, wo lediglich gegen Seeliger, Erzkanzler, 177, betont wird, daß es unter Mathias noch nicht, etwa unter Khlesls Einfluß, zur Errichtung einer eigenen österreichischen Hofkanzlei kam, ohne daß dadurch die früher ausgesprochene Meinung über die Bestrebungen Khlesls widerrufen wurde. 12S) Erzkanzler an Férd. II. v. 1620 Mai 6., b. Kretschmayr, Vizekanzler­amt 480 f. 123 a) Weisung v. 28. März 1619 i. Mzer. R. K. 8 b. 121) Vgl. Ulms Bericht v. 10. April 1619 i. R. K. Verf. A. 35, u. i. Mzer. R. K. 8 b. 38

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