Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn
der merkwürdigerweise hier nicht genannt wird, aber in den nächsten Monaten der gefährlichste Konkurrent Schönborns wurde, war Graf Philipp Ludwig von Sinzendorf. Noch bei Lebzeiten des Grafen Kaunitz hatte der Kaiser den Kurfürsten von der Pfalz ersucht, den Mainzer Kurfürsten wegen Sinzendorf zu sondieren221). Mit den fünf genannten Männern war aber die Zahl der Bewerber um das Reichsvizekanzleramt keineswegs erschöpft. Im Mainzer Archiv liegen nicht weniger als zehn persönliche Gesuche an den Kurfürsten um Verleihung dieses Amtes, darunter auch das des Grafen Joh. Wenzel Wratislaw. Außer diesen zehn nennen die erzkanzlerischen Akten noch fünf weitere Aspiranten, so daß nicht weniger als i j Männer nach dieser Stelle strebten 222 223), ein deutlicher Beweis, wie hoch das Amt gewertet wurde. Viele der Interessenten machten Lothar Franz die verlockendsten materiellen Anbote, falls er ihnen das Amt verleihen wollte, allen voran Graf Strattmann und Graf Philipp Ludwig Sinzendorf22s). Lothar Franz von Mainz blieb jedoch unbeeinflußbar und nahm den Kampf auf. Am 15. Februar sandte er das offizielle Präsentationsschreiben für seinen Neffen Friedrich Karl, begleitet von einem längeren eigenhändigen Brief, in dem er seinen Entschluß begründete, an den Kaiser. Der Kaiser antwortete auf dieses Schreiben nicht und die nächsten Monate waren erfüllt von einem zähen Ringen des Kurfürsten mit dem Wiener Hofe, in dem er sich auf den Obersthofmeister Grafen Ferdinand Harrach und auf den Oberstküchenmeister Grafen Ferdinand Mollart stützte. Als mitten in diesen kritischen Zeitläuften der erprobte Mainzer Resident Gudenus starb, sandte der Kurfürst sofort seinen Neffen Franz Erwein von Schönborn nach Wien, der unermüdlich für seinen Bruder Stimmung machte. Nichts vermochte den Kurfürsten abzuschrecken, weder der Widerstand der österreichischen Aristokraten, von denen noch Gudenus behauptet hatte, sie hätten sich verschworen, keinen aus dem „Reiche“ zur Stelle des Reichsvizekanzlers gelangen zu lassen, noch die trübe Aussicht, daß Friedrich Karl, wenn er Reichsvizekanzler würde, angesichts dieses Widerstandes „keine andere Figur als eines Reichskanzlei- direktoris machen“ würde 224). Philipp Ludwig Sinzendorf, übrigens kaum weniger jung als Schönborn, war bald dessen einziger, aber überaus gefährlicher Gegenkandidat. In den letzten Wochen vor Leopolds Tode erlahmte der Widerstand gegen die Kandidatur Schönborns sichtlich. Franz Erwein von Schönborns Berichte klingen immer zuversichtlicher. Zu einer Entscheidung raffte sich Leopold aber doch nicht auf. Vielleicht dachte er an eine Kompromißlösung in der Form, daß Friedrich Karl zunächst einem anderen als coadjutor cum iure successionis beigegeben werden sollte. 221) Vgl. dessen Schreiben an Josef I. v. 16. Mai 1705 i. R. K. Verf. A. 2. 222) Eigenhändige Schreiben liegen vor von: Gf. Leop. Auersperg, Fürstabt Rupert von Kempten, Gf. Sigismund Königsegg, Gf. Leopold Lamberg, Gf. Max Karl Löwenstein- Wertheim, Fhn. v. Nesselrode, Gf. Karl Ludwig Sinzendorf. Gf. Philipp Ludwig Sinzendorf, Gf. Heinr. Strattmann, Gf. Joh. Wenzel Wratislaw. Genannt werden ferner Gf. Johann Goess, Gf. Georg Martinitz, Gf. Schlick, Joh. Friedr. v. Seilern und Gf. Karl Waldstein (Mzer. R. K. 4). 223) Strattmann bot 100.000 Taler, Sinzendorfs Anbote, die durch Kurpfalz erfolgten, waren noch höher; vgl. H a n t s c h a. a. O. 224) Am 9. März 17OJ berichtete Kardinal Lamberg dem Kurfürsten von dieser Äußerung eines der Beichtväter des Kaisers (Mzer. R. K. 4). 63