Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 3. Die Reichskanzlei im Kampfe mit der österreichischen Hofkanzlei bis zum Rücktritt des Reichs Vizekanzlers Schönborn
der ein sehr wesentlicher Teil der verlorenen Kompetenzen zurückerobert und behauptet wird. Erst unter dem Vizekanzler Friedrich Karl von Schönborn folgte nach heftigstem Kampfe der endgültige Niedergang. Die Vorgänge, die der Ernennung des Grafen Kaunitz zum Vizekanzler im Jahre 1696 vorausgegangen waren, ließen erwarten, daß auch diesmal die Besetzung des Vizekanzlerpostens sich nicht ohne Reibungen vollziehen würden. Lothar Franz von Mainz hatte mit Kaunitz schlechte Erfahrungen gemacht und war entschlossen, diesmal unter allen Umständen auf seinem Rechte zu bestehen 21S). Der Kurfürst glaubte dies um so mehr tun zu sollen, als sich seine politische Stellung seit 1696 wesentlich gefestigt hatte und er in der Person seines Neffen Friedrich Karl von Schönborn, der ihn bereits am Kaiserhofe diplomatisch vertreten hatte, einen ausgezeichneten Kandidaten hatte. Dazu kam noch, daß sich dem Kurfürsten, der stets auf die Förderung der Familieninteressen des Hauses Schönborn bedacht war, hier eine Gelegenheit bot, einem ihm überdies noch sehr nahestehenden Mitglied seiner Familie ein hervorragendes und einträgliches Amt zuzuwenden. Andererseits war aber auch Kaiser Leopold I. durchaus nicht gewillt, den Wünschen des Erzkanzlers sich ohne weiteres zu fügen. Nachdem Kaunitz am 11. Januar 1705 gestorben war, richtete er daher schon am folgenden Tage an den Erzkanzler ein Schreiben, in dem er ihm vom Tode des Reichsvizekanzlers Mitteilung machte und ihn gleichzeitig unter ausdrücklicher Betonung der erzkanzleri- schen Rechte bat, mit der „Präsentation“ seines Kandidaten solange zuzuwarten, bis er sich mit ihm vertraulich darüber verständigt hätte, zu welchem Zwecke er den Mainzer Residenten Gudenus oder eine andere Person an ihn zu entsenden gedächte. Gleichzeitig teilte der Kaiser auch mit, daß er den Reichshofrat Max Adam Graf von Waldstein mit der Verwaltung des Vizekanzellariats betraut habe219). Zeigte schon dieses Schreiben, in dem Leopold davon sprach, daß er nur einen Mann brauchen könne, dessen er sich bei den schwierigen Verhältnissen und seinen „nicht zunehmenden Kräften zu etwelcher seiner Sublevation zuversichtlich gebrauchen“ könne, dem Erzkanzler, wohin der Kaiser hinaus wollte, so wurde er vollends durch ein Handbriefl vom 24. Januar, das an die Stelle der geplanten Mission des erkrankten Gudenus trat, darüber aufgeklärt, daß Leopold Friedrich Karl nicht annehmen wollte. Der Kaiser betonte darin besonders, daß er nur einen Mann gereiften Alters, das die nötige „experienz“ für die Führung der Politik verbürge, brauchen könnte, da er den Reichsvizekanzler nicht nur für die Reichshofratssachen, sondern auch für die großen Staatsgeschäfte benötige. Er empfahl dem Kurfürsten, wenn er nicht unter seinen Leuten über einen derartigen Mann verfüge, seine Wahl unter den Grafen Max Karl von Löwenstein-Wertheim, Johann von Goess, Heinrich von Strattmann und dem Freiherrn Johann Friedrich von Seilern zu treffen 22°). Ein weiterer Kandidat des Kaisers, 218) Über den folgenden Kampf und seine Hintergründe unterrichtet uns jetzt das ausgezeichnete, bereits wiederholt zitierte Buch von H a n t s c h, das aus der Benützung der Schönbornschen Archive vielfach neue Aufschlüsse bieten konnte. Dessen Darstellung und dem von Hantsch für diese Frage nicht benützten reichhaltigen Material des Erzkanzlerarchivs (Mzer. R. K. 4) folge ich hier. 219) R. K. Verf. A. 2. Hantsch ist auf diese Einzelheiten nicht eineegangen. 22°) Mzer. R. K. 4. 62