Lothar Groß: Inventare Teil 5. Band 1. Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559-1806 (1933)
I. Die allgemeine Entwicklung der Reichskanzlei von 1559-1806 - 2. Die Reichskanzlei unter Rudolf II. und Mathias
nommenen Konzepte wochenlang liegen ließen, so gewinnt man, auch wenn man die einer Verteidigung dienenden Äußerungen kritisch wertet, ein recht trauriges Bild. Aber auch die gewalttätige Art Vieheusers gegenüber den Schreibern, von der Benck einige Fälle erwähnt, erscheint jetzt verständlicher, ebenso gewinnen wir eine andere Anschauung über die Verwendung von Privatschreibern seitens der SekretäreB7), wenn wir die Unfähigkeit der Kanzleischreiber in Betracht ziehen. Auch die Sekretäre ließen es in manchem fehlen, gingen eigenmächtig vor und trieben Protektionswirtschaft 58). Recht groß müssen verschiedenen Berichten der Taxgegenschreiber zufolge die Übelstände beim Taxamt gewesen sein59), wie ja das Taxwesen überhaupt eine Hauptquelle der Korruption war. Diese waren es wohl auch in erster Linie, die den Erzkanzler veranlaßten, nach Kurzens Tode am 30. Juli 1594 ein Memorial an die Reichskanzlei zu erlassen60), das, in zehn Punkte gegliedert, die Mißbräuche rügte und deren Abstellung forderte. Es sind vielfach dieselben Klagepunkte, die wir schon bei der Erneuerung und Novellierung der Kanzleiordnung 1566 und 1570 feststellen konnten. Neu ist die Klage über den schleppenden Geschäftsgang, die, wie wir aus zahlreichen Berichten vom Hofe Rudolfs II. wissen, nur zu berechtigt war, neu auch, daß Kanzleibeamte in fremde Dienste traten, „Korrespondenzen halten“ und dafür Dienstgeld bezogen. Geändert wurde auch durch dieses Kanzleimemorial Wolfgangs von Mainz, das allen Kanzleiverwandten die strenge Befolgung der Kanzleiordnung einschärfte, an den desolaten Zuständen nichts. Die steigenden Schwierigkeiten, die sich einer geordneten Regierung und einem regelmäßigen Gang der kaiserlichen Zentralbehörden in der folgenden Zeit infolge der geistigen Erkrankung des Kaisers entgegenstellten, bewirkten vielmehr, daß auch in der Reichskanzlei die Desorganisation noch zunahm. Freymon führte die Kanzleigeschäfte bis zu seinem am 2. September 1597 erfolgten Rücktritt nur als interimistischer Leiter, zum wirklichen Vizekanzler wurde er nie ernannt. Ebenso wie er war auch sein Nachfolger C o r a d u z, den der Kaiser sogleich nach Freymons Abgang vom Hofe mit der Verwaltung des Vizekanzleramtes betraute, durch fast ein Jahrzehnt nur Reichshofvizekanzleramtsverwalter, wie der offizielle Titel lautete. Der Erzkanzler, dessen nachträgliche Zustimmung der Kaiser auch diesmal einholte 01), war auch mit Coraduz, der ja schon neben Freymon gearbeitet hatte, einverstanden 62). Im November 1606 trat Coraduz nach wiederholten Entlassungsgesuchen und öfterem Schwanken in der Gunst des Kaisers mit Wissen und Willen des Erzkanzlers endgültig zurück. Schon 1602 hatte man beabsichtigt, ihn durch eine andere Persönlichkeit zu ersetzen und damals bereits an den Mainzer Rat Leopold von 57) Wie Benck erwähnt, mußte Obernburger wegen der Unbrauchbarkeit der Kanzleischreiber seine Privatschreiber verwenden. 5S) Man vergleiche etwa die Beschwerdeschrift des Kanzleischreibers Fugger an den Kaiser v. 6. Febr. 1607, die gegen Barvitius gerichtet ist, in R. K. Verf. A. 53. 69) Vgl. die Berichte des Gegenschreibers Pichl an den Erzkanzler v. 24. April 1387, 23. Nov. 1589 und 26. Okt. 1590 i. Mzer. R. K. u. Taxamt 6. “) R. K. Verf. A. 1. 61) Schreiben v. 13. Okt. 1597, R. K. Verf. A. 2. 82) Schreiben v. 6. Nov. 1597 ebda. 25