Historische Blätter 7. (1937)
Paul Kletler: Karl der Grosse und die Grundlegung der deutschen Kultur
von Karl inspirierten Werk gekennzeichneten Frömmigkeit zurück zu der Frömmigkeit der heidnischen Germanen, von denen Tacitus, möglicherweise doch im Kerne richtig, sagt (Germania c. 9), sie hätten ihre Götter wegen deren Größe nicht menschenähnlich gebildet und nur mit ehrfürchtiger Scheu (sola reverentia, d. h.: nicht mit den Augen des Leibes) gesehen. Wie sehr Karl dem Großen die Verbindung des Christentums mit dem Volkstum am Herzen lag, ersieht man aus den Beschlüssen der noch von ihm einberufenen Synoden von Reims und Tours des Jahres 813, die Predigten sollten „damit alle den Inhalt verstehen“ secundum pro- prietatem linguae gehalten, die Vorlagen in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam übersetzt werden61. 50 wird es verständlich, wie in der Zeit, die unmittelbar im Schatten Karls des Großen steht, im 9. Jahrhundert, mit bewußtem Stolz auf die Muttersprache die ersten Übersetzungen des Evangeliums ins Deutsche und in der kulturell gleichfalls von karolingischen Traditionen erfüllten Ottonenzeit so deutsche Werke wie das Waltharilied und — gerade in Sachsen — die von innigem und kräftigem Volksgefühl dureh- klungene Chronik Widukinds von Benediktinermönchen geschaffen werden konnten. Sachsen ist der beste Beweis dafür, daß weder die politische Zusammenfassung, noch die Christianisierung die eigentümlichen Stammeskräfte vernichtet oder wesentlich geschädigt hat. Und doch war für die Sachsen die Christianisierung ganz besonders gefährlich, da ihnen die fremde Religion mit grausamen Gesetzen und Maßregeln in kurzer Zeit aufgezwungen wurde, während die andern deutschen Stämme ohne Gewaltanwendung durch Predigt und Beispiel allmählich — die Friesen z. B. in etwa einem Jahrhundert — bekehrt worden waren. Und da wir in diesem Aufsatze es nun einmal unternommen haben, zu wägen und zu werten, nach Notwendigkeit und Tragik, nach Verantwortung und Schuld zu fragen, so müssen wir auch zu den gewaltsamen Methoden der Sachsenbekehrung Stellung nehmen. Unwillkürlich denkt man zuerst an das blutige Gericht von Verden, das wie ein schwarzer Schatten über der Gestalt Karls des Großen liegt52. Aber es ist heute völlig klargestellt, 51 MG. Conc. 2, 255, XV u. 288, XVII. 62 Die Tatsache einer äußerst blutigen Massenhinrichtung ist nicht zu bezweifeln, da sie von den besten Quellen der Zeit, den offiziösen Eeichsannalen und deren wohl auch in der kaiserlichen Kanzlei entstandenen Überarbeitung und — ohne Zahlenangabe — auch noch von kürzer berichtenden zeitgenössischen Annalen berichtet wird; man könnte höchstens eine — in mittelalterlichen Quellen ja geläufige — Übertreibung der Zahl annehmen. Vgl. bes. Dietrich Schäfer, Die Hinrichtung der Sachsen durch Karl d. Gr. (Hist. Zeitschr., 78, 1897). 24