Historische Blätter 4. (1931)

Herausgegeben von Josef Karl Mayr: Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen. September bis Dezember 1859

30. Oktober. Rittmeister Kraus — früher in meiner Präsidialkanzlei verwendet, nunmehr beim Armeeoberkommando —, wie es scheint, das volle Vertrauen des Erzherzogs Wilhelm 32 genießend, besuchte mich und vertraute mir die bedauerlichen Verhältnisse der Ministerkonferenz. Die Herren Minister sind nicht nur nicht einig, sondern bekämpfen sich auch gegenseitig. Als der Graf Rechberg eine Kontrolle der Finanzgebarung beantragte, geriet Baron Bruck dergestalt außer sich, daß er aufstand, den Hut nahm und forlgehend sagte: „Nun, so mögen die Herren mein Portefeuille übernehmen!“ 33 Seine Entfernung ist nun unvermeidlich und dürfte in kurzem erfolgen. Erzherzog Wilhelm ist gegen den auf Reisen gegangenen Fml. Baron Eynatten 34 mißtrauisch und beschuldigt ihn, die Interessen des Ärars in eigennütziger Absicht beiseite gelegt zu haben. Ich wußte schon lange nichts Besseres von ihm und deutete es an, aber Graf Grünne stellte ihn demungeachtet auf den gefährlichen Posten, stattete ihn mit dem Vertrauen des Kaisers aus und verschaffte ihm die Auszeichnung mit dem Großkreuze der Eisernen Krone. Ich ging in die Stadt, besuchte Fml. Langenau und den Präsidenten Schmerling. Als ich nach Hause gekommen, erschien Graf Franz Zichy. Er bezeichnete den Grafen Stefan Széchényi 35 — als angeblichen Narren bei Görgen untergebracht — als den Verfasser von „Ein Blick auf den anonymen Rückblick“ (gegen Bach)36. Sonst sprach er noch lange, jedoch ohne prägnante Ausführung seines Themas. Er kam, was ich vermutet hatte, auf die Feierlichkeit zu Gran am 6. November37 (zu 32 Vgl. den 19. September 1859. 33 In der Ministerkonferenz vom 22. Oktober 1859 verlangte Graf Rechberg zum Zwecke der Wiederbefestigung des Staatskredites die Reaktivierung der Staatsschuldentilgungsdeputation von 1817, jedoch in erweiterter Form. Als Bruck auswich, Rechberg aber nochmals darauf drang, erklärte jener, „daß er unter diesen Verhältnissen sein Ministerium zur Verfügung stelle“ (Haus-, Hof- und Staatsarchiv). 34 Ließ sich als Generaldirektor für ökonomische Angelegenheiten des Armeeoberkommandos während des Krieges Unterschleife zuschulden kommen und endete im März 1860 durch Selbstmord. 35 „Der größte Ungar“. Ein Bahnbrecher auf wirtschaftlichem und sozia­lem Gebiete. 1848 mußte Sz. vor Kossuth weichen. In den letzten Jahren vor seinem tragischen Ende — er tötete sich selbst — befand er sich in der Heilanstalt Dr. Görgens in Döbling. 36 Diese Schrift, 1858 anonym in London erschienen, war, wie schon ihr Titel verrät, eine Erwiderung auf Bachs (gleichfalls anonymen) selbstgefälligen „Rückblick auf die Entwicklungsperiode Ungarns“. 37 Vgl. den 6. Oktober 1859. 86

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