Historische Blätter 4. (1931)

Herausgegeben von Josef Karl Mayr: Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen. September bis Dezember 1859

sprechen), erschrak, als ich die Unmöglichkeit erwähnte, dahin zu reisen, und bewies mir, was ich überflüssig fand, daß e r dieser Feierlichkeit sich nicht werde entziehen dürfen. Abends empfing ich unvermutet Besuch vom neuen Polizeiminister Baron Thierry. Er blieb über eine Stunde. Mit Verachtung sprach er von Baron Hübner, dessen Gebaren große Verlegenheit herbeigeführt und auch dem Ansehen des Kaisers geschadet hätte. Hübner strebt nach Rechbergs Position; in perfider Art buhlte er um Popularität, stellte sich als den einzigen Staatsmann hin, welcher die ungarische Verwicklung beherrschen könne, und trat in der Zuversicht ab, e r sei der Minister­präsident der Zukunft. Lewinsky und Fidler38 hält Baron Thierry für rot, den ersteren auch für falsch; auch von Hell hat er keine gute Meinung. Vor Lewinskys demokratischer Färbung habe ihn der Kaiser gewarnt mit der Bemerkung, er habe dies bei mir und bei Hübner um­sonst getan. Was mich betrifft, so kann ich diese Behauptung nicht zu­geben, denn ich wußte wohl, was von Lewinsky zu halten sei, und be­handelte ihn hiernach: ich nützte sein Talent und hielt die Gesinnung im Zaume. Die Ministerkonferenzen finden in solcher Ausdehnung statt, daß in der Sorge für das Ganze die Teile ganz vernachlässigt werden. Die Minister beraten das zu Schaffende und lassen das Vorhandene ver­kümmern. Ein Minister kontrolliert den andern; so z. B., sagt Thierry, könne er keinen Polizeidirektor ernennen, ohne für den Betreffenden nicht die Zustimmung der ganzen Konferenz zu haben. In Erwartung von Veränderungen lösen alle bisherigen Bande sich auf. Ein solcher Zustand ist bedauerlich! 31. Oktober. Es besuchte mich der hiesige Israelite B., der in früherer Zeit, während ich Militärgouverneur von Wien war, mehrfache Beweise seiner Loyalität mir gab. Sonst ist er Jude durch und durch. Sonderbarerweise fragte er mich, ob ich Geld bedürfe. Als ich ihn zu­rückwies, schilderte er mir die herrschende Stimmung als höchst bedenk­lich und wie am Vortage einer Revolution. Die Klage über Vernach­lässigung der Israeliten schimmerte deutlich durch und er sprach mit scharfer Betonung: „Das Konkordat hat Österreich verhaßt gemacht. Die Juden haben die Feder in der Hand und das Geld in der Tasche. Wie die Turkos auf der Erde schleichend, verfolgen sie ihr Ziel, beharr­lich und rachsüchtig. Und all dieses sieht man nicht.“ B. verstieg sich in seiner leidenschaftlichen Darstellung zu der Bemerkung, daß dem 38 Hofsekretär im Polizeiministerium. 87

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