Historische Blaetter 2. (1921)
Carl Brinkmann: Neue Bücher. Das österreichische Staats- und Reichsproblem
wieder hervorgehoben zu haben. Die deutschvölkischen Kreise der Habsburger- Monarchie, denen sich jene Schichten des Beamtentums, Adels und höheren Bürgertums vornehmlich von ihrer über den Nationalitäten stehenden Funktion und Kultur aus zu zeigen pflegten, neigten nur zu sehr dazu, zu vergessen, daß in dem Gemisch dieser „kaiserlichen und königlichen“, d. h. dynastisch und nicht national geprägten Schichten der kulturell Ausschlag gebende Bestandteil wie das sprachliche Verständigungsmittel eben doch deutsch war und blieb und dem, was man das österreichische Staatsvolk nennen konnte, einen nicht minder deutschen, jedenfalls von slavischen Beimengungen kaum in höherem Grade beeinflußten Charakter verlieh als der heute so viel besprochenen Gattung des „preußischen Menschen“. Die Wirkung der Achtundvierziger Revolutionsepoche auf diese nationale und soziale Struktur der Habsburger-Monarchie war nun, wie Redlich in seinem zweiten Abschnitt über die „Entfaltung des österreichischen Problems“ ausfüht, seltsam widerspruchsvoll: Es war nicht in erster Reihe eine bürgerliche Erhebung gegen das monarchistisch-feudale Ancien Régime wie in den übrigen europäischen Staaten, sondern vor allem eine nationale Erhebung der verschiedenen, den alten Staat zu sammensetzenden Stämme gegen die übernationale Idee und Regierung dieses Staates und daher nicht bloß, wenn auch freilich am stärksten, eine Aktion des Slaventums gegen die Hegemonie der Deutschen in Österreich und der Magyaren in Ungarn, sondern zugleich eine Aktion des deutschen und magyarischen Liberalismus gegen die überlebte Polizeiautokratie der Gesamtstaatsverwaltung. Damit aber war in die österreichisch-ungarische Revolution ein sehr ähnlicher Zersetzungskeim gelegt wie gleichzeitig in die kleindeutsch-preußische: Wie sich im Deutschen Bund deutsche Idealpolitik und preußische Machtpolitik als unvereinbar erwiesen, so haben sich auch die deutsch-magyarische und die slavische Opposition gegen das habsburgische Ancien Régime gegenseitig nicht verstärkt, sondern nur geschwächt, und während sich jene mit dem Instinkt der herrschaftsgewohnten Stämme und Schichten schließlich bei dem Gedanken der monarchisch-bureau- kratischen Staatsform beruhigte, flüchteten die Slaven vor dem neuen deutschen Reformzentralismus und der Gefahr des großdeutschen Zusammenschlusses zurück zu dem alten Länderstaat, dessen geringere Widerstandsfähigkeit sie durch das Autonomieprinzip zu ihren Gunsten vollends aufzulockern hofften. Beiden Oppositionen gegenüber hatten die großen Vertreter der autokratischen und bureaukratischen Regierungsform, Mystiker wie Windischgrätz oder Rationalisten wie Felix Schwarzenberg und Kübeck, nun um so leichteres Spiel, als sie wechselnd als Vollstrecker bald des liberalen Zentralismus, bald des nationalen Autonomiebestrebens auftreten konnten. Redlichs Augenmerk wendet sich in diesem wie in dem folgenden Abschnitt über die Kremsierer Verfassungsberatungen zunächst besonders dem slavischen, d. h. vornehmlich dem tschechischen Programm zu, dessen politische und kulturelle Bedeutung in der deutschen Geschichtsschreibung naturgemäß leicht unterschätzt wird. Deutschösterreichische Überhebung war ja vielfach bis in die letzte Zeit der Doppelmonarchie mit Grillparzers Erinnerungen aus dem Jahre 1848 (Hock 14, 176) der Ansicht, daß „die Tschechen keine Nation sind, sondern ein Volksstamm und ihre Sprache nicht mehr und nicht weniger als ein Dialekt“. Ganz im Gegensatz dazu geht Redlich auf den Spuren von Denis, Zehntbauer und Schütter von einer einläßlichen, fast liebevollen Betrachtung der modernen politischen Bildung des Tschechenvolkes durch seine großen Publizisten Palacky, Rieger und Havlicek aus*) und erneuert so die verständnisvolle Haltung des älteren deutschböhmischen Liberalismus der Kuranda und Genossen. Dabei wird doch der jugendlich naive Nationalegoismus der Tschechen keineswegs verschwiegen und z. B. zugegeben, daß nur der Zusammenbruch ihrer ersten Autonomiebewegung im *) Ob die zitierte zeitgenössische und spätere tschechische Literatur im Original zugrunde liegt, ist nicht recht ersichtlich. Ein großer Schönheitsfehler des Buches ist die ganz verworrene Schreibung der tschechischen Eigennamen. — Vgl. jetzt P. Geist-Länyi, Das Nationalitätenproblem auf dem Reichstag zu Kremsier. München 1920. 45