Pester Lloyd-Kalender 1861 (Pest, 1861)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1861. - Geschichte des Jahres

80 Geschichte des Jahres. italienischen, wohl aber gegen einen französischen Angriff decken zu helfen verspricht und seine guten Dienste für die Bewerkstellung einer Aussöhnung Oesterreich's mit Rußland in Aussicht stellt; wäh­rend der Kaiser sich anheischig gemacht hat, den preußischen Wünschen in Betreff einer Reform der Bundeskriegsverfassung bei den Mittel- und Klein­staaten Deutschland's Eingang zu verschaffen. Das Siegel auf diese Regociationen zu drücken, wenig­stens so weit sie den Bund angehen, war dem Ren­dezvous zwischen dem Kaiser Franz Joseph I. und dem Könige von Baiern Vorbehalten. Gelegentlich der Vollendung der Westbahn trafen beide Sou­veräne am 12. August in Salzburg zusammen; und hier knüpfte der Kaiser an ein Hoch, das er „ans die Einigkeit der deutschen Fürsten und Völ­ker" ausbrachte, einen Rückblick,' in dem er seine „Befriedigung" über die „Einmüthigkeit" kundgab, „die in Teplitz zwischen dem Prinzregenten und ihm geherrscht habe." Auf dem Rendezvous von War­schau, das für die erste Hälfte des Oktober zwischen Franz Joseph I., Alexander II. und dem Prinzre­genten verabredet worden ist, wird es endlich of­fenbar werden müssen, ob auch Rußland zu einer unbedingten Restaurirung der heiligen Allianz zu überreden ist — ein Akt, der allerdings mit dem Abschluß einer antinapoleonischen Coalition so ziem­lich gleichbedeutend sein würde. Von entscheidendem Einflüsse aus die Haltung der Petersburger, wie der englischen Regierung, die von Berlin aus ebenfalls im Sinne der Coalition bearbeitet wird, muß un­ter allen Umständen die Stellung der Mächte zu den neuen Verwicklungen im Osten sein. Für jetzt läßt sich nur so viel sagen, daß es einerseits schwierig erscheint, Rußland, das vor allen Dingen die Revision des Pariser Friedensvertrageö von 1856 verlangt, und Großbritannien in Einer Allianz zu vereinen, das sicherlich auf der fortdauernden Gil­tigkeit jenes Traktates bestehen wird — während es andrerseits Napoleon im äußersten Falle im­mer noch möglich sein dürfte, durch Concessionen in Betreff der Türkei die Neutralität, wenn nicht gar die positive Beihilfe, sei es Rußlands, sei es Eng- land's zu erkaufen — zumal, wenn er mit seiner gewönlichen diplomatischen Gewandtheit die Sache so zu drehen weiß, daß die deutschen Mächte in dem Lichte dastehen, als wären sie selber der angrei­fende Theil. Denn auch die orientalische Frage ist seit einem Vierteljahre wieder in vollem Gange: und die Art, wie sie zuerst ohne allen äußeren Anlaß heraufbeschworen ward, gibt der Vermuthung Raum, daß über diesen Punkt immer noch, seit dem Stuttgarter Rendezvous der Kaiser Napoleon und Alexander im September 1857, zwischen den Höfen von Paris und Petersburg ein tiefwurzelndes Ein- verständniß herrsche, das durch einen Appell an das Legitimitätsbewnßtsein des Czaren nicht leicht zu durchkreuzen sein dürfte, so lange nicht Rußlands ureigenste und unmittelbarste Interessen einen Feld­zug gegen die Revolution gebieterisch erheischen. Anfangs Mai nämlich veranstaltete Fürst Gortscha- koff plötzlich eine Conferenz der in Petersburg ac- creditirten großmnchtlichen Gesandten und beantragte eine gemeinschaftliche Untersuchung wegen der Nicht- ausfnhrung des Hathumayum, den die Pforte im Feber 1856 zu Gunsten der Rajah publicirt und dessen in dem Traktate von 31. März Erwäh­nung geschehen. Der Botschafter Frankreich's, der Herzog von Montebello, stimmte sofort zu: die Repräsentanten der übrigen Staaten dagegen zogen die Genauigkeit der Berichte in Zweifel, welche Gortschakoff über die Lage der Christen in dem ot- tomanischen Reiche zugegangen waren, und drangen vorerst auf eine sorgfältige, unparteiische Prüfung der ganzen Situation. In Erwartung, vielleicht in nur allzugroßer Voraussicht der Dinge, die da kommen sollten, schickte der Kaiser allsogleich den Marquis von Lavalette als seinen Vertreter nach Constantinopel — eine für die Pforte ominöse Wahl, da eben jener Staatsmann ihr vor sieben Jahren so hart wegen des Protektorates zugesetzt hatte, das Frankreich über die heiligen Stätten be­ansprucht. Indeß erkannten Frankreich und Ruß­land, daß die Frucht noch Zeit zur Reife bedürfe; und so gaben denn Lavalette, wie Herr v. Laba- noff, der Gesandte des Czaren, Ende Mai die Er­klärung ab : „sie seien zufrieden mit der von der Regie­rung des Sultans aus eigenem Antriebe angeordneten selbstständigen Untersuchung der Lage der Christen." Die Ahnung der beiden Mächte, daß bald Ereignisse statt­finden würden, die ihr Projekt fördern müßten, bestä­tigte sich mit einer, für eine bloße Ahnung überra­schenden Schnelligkeit. Am 2. Juni entbrannte der alte Streit zwischen Drusen und Maroniten auf's Neue: bei der Verrätherei und Feigheit, mit welcher die türkischen Behörden und Soldaten sich benahmen, stand int Umsehen der ganze Libanon in Flammen; und, was ärger war, die Fehde zweier halbwilder Gebirgsstämme nahm den Character einer allgemeinen Christenverfolgung an, die sich von einem Ende Sy- rien's bis zum anderen verbreitete. Am 8. Juli er­hoben sich die Moslim in Damaskus uttb richteten eine volle Woche lang ungestört ein entsetzliches Massacre unter den Giaurs an, bei dem weder Alter noch Ge­schlecht geschont, selbst die europäischen Consulate nicht respectirt wurden, und das mit der vollständigen Zer­störung des Christenquartiers endete. Der Gesammt- schaden, den muselmännischer Fanatismus den Chri­sten verursachte, ward auf 250 Mill. Piaster; die Zahl der Ermordeten auf 8000 veranschlagt: 154 Städte und Dörfer, in Damaskus allein 600 Häu­ser, 14 Klöster, 11 Kirchen gingen in Feuer auf; 80,000 Menschen irrten obdachlos umher. Dieser

Next

/
Oldalképek
Tartalom