Pester Lloyd-Kalender 1860 (Pest, 1860)

Pester Lloyd-Kalender für das Schalt-Jahr 1860 - Geschichte des Jahres

114 Geschichte des Jahres. Zerhauen des diplomatischen Netzes, mit dem man es umsponnen, den Schein auf sich laden mußte, als sei es der angreifende Theil. Eine andere Täuschung als eine absichtliche Selbsttäuschung war in dieser Beziehung von jetzt ab geradezu undenkbar; denn Mitte Februar begann die Bildung der Lyoner Ar­mee, zu welcher Mac Mahon alsbald zwei Divisionen aus Algerien abgeben mußte, die er mit dem bezeich­nenden Zurufe entließ : „vorwärts denn, Soldaten ! seid unerschütterlich! bewahrt die Mannszucht und seid ohne Furcht!" Um dieselbe Zeit konzeutrirte Piemont seine fünfInfanteriedivisionen an der Dora Baltea und in dem Festnngödreieck Casala-Valenza- Aleffandria, das ganze Binnenland dem ausschließli­chen Schutze der Nationalgarde überlassend, während in Turin ganz öffentlich ein Werbebureau für Flücht­linge und Zuzügler aus dem übrigen Italien einge­richtet ward. Anfangs März berief daher auch Oester­reich die Urlauber seiner in Italien garnisonirenden Regimenter ein, welche überdies so großartige Ver­stärkungen empfingen, daß die West- und Südbahn die Frachtenbeförderung, der Militärtransporte wegen beinahe gänzlich einstellen mußten: auch mahnte die Demonstration, die in Mailand am 22. Feber bei dem Begräbniß des populären Grafen Emilio Dan- dolo, so wie die Störung der Maskenaufzüge durch volitische Kundgebungen, welche im März in Venedig stattfand, die Wiener Regierung noch mehr zur An­spannung aller Kräfte, um dem heranbrausenden Sturm die Stirne zu bieten. Dieselbe ließ sich auch da nicht mehr irre machen, als die entschieden fried­liche Stimmung Frankreichs ihr eine unverhoffte Bün- desgenossenschast darzubieten, der napolionischen Po­litik ein unerwartetes Hinderniß in den Weg zu legen schien. Aus den 86 Departements berichteten 83 Präfekten über die deutliche Abneigung des Lan­des gegen jeden Krieg; in dem nemlichen Sinne sprachen sich die wichtigsten Handelskammern, sprach sich selbst ein Theil der Presse aus: es bedurfte dro­hender Zurechtweisungen und zweier ministerieller Circulare über „das Umsichgreifen der materiellen Interessen auf Kosten des nationalen Ruhmes", um diese Aeußerungen zum Schweigen zu bringen. Ja, am 3. März verlangte die Budgetkommission des gesetzgebenden Körpers auf Devinck's Antrag Auf­schlüsse über die Krieg- und Friedensfrage; und als Graf Morny ihr entgegnete, sie möge einfach das Budget votiren und sich auf die Weisheit des Kaisers verlassen, erhielt er zur Antwort, die Kommission werde die Verweigerung des Budgets Vorschlägen, wenn die Regierung sie gänzlich bei Seite schieben wolle. Am 4. wiederholte Staatsrathspräsident Ba- roche die Erklärung Morny's und Devinck die des Ausschusses: darauf hin bequemte sich Baroche denn noch um 5 Uhr Abends zu der offiziellen Versicherung, der Friede fei viel wahrscheinlicher als der Krieg — nichts desioweniger wählte die Kommission, obschon sie nun für die Annahme des Budgets stimmte, De­vinck zum Berichterstatter. Da veröffentlichte am 5. der „Moniteur", um die Kammer fügsamer zu machen, ein Friedensprogramm, von dem, Angesichts der vor- angegangenen offenkundigen Thatsachen, Niemand wußte, ob es albern oder unverschämt zu nennen sei: „der in PiemoM herrschenden Aufregung gegenüber habe Napoleon versprochen, seinen Bundesgenossen wider jeden aggressiven Akt Oesterreichs zu schützen, nicht mehr; Alles was die Presse über kriegerische Absichten verbreite, sei eitel Lüge,Einbildung, heraus­forderndes Mißtrauen; das Heer sei durchaus auf dem Friedensfnße, desgleichen die Flotte, bis auf die par gegen Eochinchina entsandten Schiffe ; eine diplomatische Lösung so viel wie gewiß." Um das Taschenspielerstückchen zu vervollständigen, entsagte Prinz Napoleon auf diese Note hin dem Portefeuille des Kolonialministeriums: allein die „Opinione" in Turin, das Organ Cavour's, ermähnte die Italiener sich nicht einschüchtern zu lassen, das Ganze sei nm­ein schlaues Manöver. In Wien brauchte man, um aufgeklärt zu werden, diese offenherzige Auslegung des „Monitenr"-Artrkels kaum. Der einzige Ein­druck, den er dort machte, war der, daß die „Wien. Ztg." von da ab sich eine eigene Rubrik unter dem Titel „die Rüstungen Frankreichs" anlegte, um das Pariser Amtsblatt Lügen zu strafen. An Stoff fehlte es ihr dabei nicht: denn während der zweiten Hälfte des März häufte Frankreich ungeheure Vorräthe an Proviant und Kriegsmaterial in Toulon und Mar­seille an; errichtete die vierten Bataillone wie zur Zeit des Krimmkrieges; verstärkte die Grenzfestungen am Oberrhein io wie längst seiner ganzen Ostgrenze und die Besetzung des Lagers von Chalons. Das sardinrsche Heer, dessen Generalstäb sich schon am 3. Marz nach Alessandria begeben, sollte bis zum 25. volle 60,000 Mann zählen. General Niel besichtigte im Aufträge Napoleon's die Werke von Alessandria und die Erdarbeiten, welche der piemontestsche Gene­ral Menabrea an der Doralinie ansführen ließ; endlich begab sich Cavour selber auf des Kaisers Wunsch am 26. nach Paris, wo er bis zum 30. März verweilte. Oesterreich fuhr daher gleichfalls ruhig fort sich zu waffnen und begann Mitte März mit der Aufstellung eines Beobachtungskorps in Vorarlberg und einer Reservearmee in Istrien. Jndeß Frankreich am Rhein Truppen zusammenzog, wandte es jedoch alle Mittel an, um einen Zusammenstoß mit Deutsch­land zu vermeiden: und hier erkannte man leicht, daß es ihm aus leicht begreiflichen Gründen mit seinen friedlichen Gesinnungen Ernst war. Am 15. März bereits erklärte der „Moniteur", Frankreich habe Sympathien für Deutschland und verlange von ihm Gerechtigkeit, da es durch seine Unparteilichkeit auch dcm Frieden am besten biene; ja, er nahm sich heraus Preu­ßen in sehrmagisterhafter Weise zu loben „weil dasselbe diese Wahrheit am richtigsten begriffen und in Wien

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