Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
154 Geschichte des Jahres. Genf, das von ihr gestattete Asyl dazu mißbrauchten eine benachbarte Negierrlng durch Schriften und Der« schwörungen anzugreifen. Theoretisch fügte der Bundesrath sich diesem Ansinnen allerdings auf der Stelle, indem er schon am 15. den verlangten Jnter- nirungsbeschluß faßte: allein nun erst erhoben sich die praktischen Schwierigkeiten. James Fazy in Genf bewies sich sehr hartnäckig; das Tuilerienkabinet mußte wieder und wieder reklamiren; die in Paris aufgesetzten Flüchtlingslisten gaben Fazy, da dabei manch' seltsamer Polizeiirrthum mituntergelaufen war, um so bessere Handhaben zu Protesten und Rekriminationen. Dazu verbitterten die neuen Paßvorschriften die Stimmung gegen Frankreich mehr und mehr. Jeder Schweizer, der nach Frankreich wollte, sollte über Bern reisen müssen und doch, als die französische Negierung, um diesem Uebel abzuhelfen, Consulate in Basel und an einigen kleinen Grenzorten mit der Befugniß, Reisepapiere zu vidiren, einsetzen wollte, rief alle Welt, lieber wolle man sich die Schererei gefallen lassen, als französische Spione auf schweizerischem Boden dulden. Das Tui- lerienkabmet mußte manche Demüthigung ertragen, ehe die Consulatsfrage geordnet ward: sah es doch sogar Einigen der von ihm designirten Persönlichkeiten das Exequatur verweigert! Und was die Flüchtlingsfrage anbetraf., so mußte die Centralregierung zuletzt eine eigene Kommission nach Genf senden, die Herrn Fazy zur Raison brachte und die Oberhoheit des Bundesra- thes über die eigenwilligen Kantonalbehörden wahrte. Allein erst spät im September kassirte der Bundesrath den Protest der letzteren und erlangte endlich wirklich die Bexweisung von einem halben Dutzend Flüchtlingen aus Genf — eine magere Ausbeute für so viel Lärm und kaum eine genügende Ausgleichung des Nachtheileö, den die gründliche Berscherzung aller schweizerischen Sympathien Frankreich zugefügt, wie die Hartnäckigkeit der Eidgenossenschaft in letzter Zeit bewiesen, wo sie sich lieber wieder Oesterreich zu nähern sucht, als daß sie das von Napoleon in. so heiß begehrte Dappenthal fahren ließe. Doch alle diese, zum Theil nicht unbedeutenden Col- lisionen sanken zu bloßen kleinen Reibungen herab, wenn man sie mit den ernsteren Mißverständnissen ver- gleicht, die zu derselben Zeit und aus demselben Grunde zwischen den Westmächten ausbrachen und nicht nur die a n g l o - f r a n z ö s ch e Allianz für immer zerstö- ren zu wollen schienen, sondern auch Europa hart an den Rand eines allgemeinen Krieges führten. Das britische Asylrecht war ein altes Erévecoeur für den Imperialismus. Schon tm September 1857 benutzte das Tuilerienkabinet den ziemlich unklaren Complot- proceß, in dem es ein Contumacialurtheil gegen die jenseits des Kanals ansässigen Flüchtlinge Mazzini, Ledru- Rollin, Campanelli und Massarenti erhalten, um allerlei sehr verständliche Winke an Lord Palmerfton zu richten. Dieselben gingen aber ganz spurlos vorüber; es waren nicht mehr die Zeiten, wo man sich in Downing- ftreet so besonders beeiferte, jedem Wun,che Louis Na- poleon's aufzuspringen, wie im Mai 1855, wo Pia- nori's Mordversuch doch mindestens zu der sofortigen Entfernung aller Flüchtlinge von den Kanalinseln führte. Bei dem Jännerattentate nun stellte es sich gleich bei dem Beginne des Jnstructionsverfahrens gegen die Meuchelmörder heraus, daß Orsini und Pierri ihre frühe- sten Vorbereitungen in England betrieben und dann die Kapseln zu den mörderischen Wurfgeschossen über Bel- gien her in Frankreich eingeschmuggelt hatten. Daß der gefährliche und höchst weitläufige Füllungsproceß sie wochenlang in Paris beschäftigte, wo sie, die noto- rischen und signalisirten Flüchtlinge, unter den Augen der Pariser Polizei ganz ungenirt umhergingen und alle alle öffentlichen Orte besuchten; daß die Verschworenen sich am 14. selber an der Einfahrt zur Oper inmitten eines ausnahmsweise starken Trupps von SergeantS de Ville, deren bei dem Platzen der Handgranaten über zwei Dutzend verwundet wurden, aufstellen konnten, ohne Aufsehen zu erregen; daß der Kaiser wahrscheinlich seine Rettung nur einem Zufalle verdankte, indem Pierri von einem einzelnen Polizeibeamten denn doch noch, wenige Schritte von dem Schauplatze der That und in dem Momente derselben, erkannt und verhaftet ward, als er sich eben anschickte, seine beiden Granaten zu schleudern ; daß Napoleon III. dies gewissermaßen selbst einräumte, indem er den herbeieilenden und gleich darauf entlassenen Präfekten Pietrt in der kaiserlichen Loge mit den Worten empfing: „Sie haben auf's Neue bewiesen, daß die französische Polizei die miserabelste der ganzen Welt ist!" — Alles das beliebte man zu übersehen. England mit seinem Asylrechte ganz allein sollte alle Schuld tragen: die Behörden, die Armee und die DiplomatieFrankreichs empfingen demgemäß das entsprechende Feldgeschrei; und der unverständige, ungerechte Lärm steigerte sich natürlich noch, als der kaiserliche Jnstrukttonsrichter im Verlaufe der Untersuchung sich berechtigt glaubte, einen in London wohnhaften Exilir- ten, den Dr. Simon Franz Bernard, und einen britischen Unterthanen, den Bierbrauer Alsopp, als unmittelbare Mitschuldige der Angeklagten zu bezeichnen. Das Signal gaben die Präsidenten der großen Sraats- körperschaften, die bei ihren Beglückwünschungen an ben Kaiser und dann in den, die Thronrede beantwortenden Adressen kein Blatt vor den Mund nahmen. ES fehlte eben nicht viel daran, daß Graf de Morny, Troplong und Baroche England nicht gerade eine Mörderhöhle schimpften. Da schon die Civtlisten die ihnen ertheilte Parole in solchem Sinne auslegten, war von den Militärs keine größere Zartheit zu erwarten. So war es denn nicht zu verwundern, wenn die Adressen der Regimentsobersten, von denen der amtliche „Moniteur" jetzt Tag für Tag sein vollgerüttelt und vollgeschüttelt Maß brachte, vollends einen Ton anschlugen, wie er unter solchen Verhältnissen, d. h. von der bewaffneten