Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
Geschichte des Jahres. 155 Macht eines Landes gegen eine verbündete Nation und unter offizieller Sanction des betreffenden Staatsober. Hauptes, sicherlich noch nie in der Geschichte erhört wor- den ist. Das Motto jener Tage, „gegen England ist Alles erlaubt" ward so auf die Spitze gestellt, daß ein braver Colonel in dem Regierungsorgane den Kaiser ersuchen durfte, „sein Regiment die Vorhut bilden zu lasten, wenn es gelte, die Mörder bis in ihre le.tzten Schlupfwinkel zu verfolgen." In seinen Noten an den Grafen Persigny, den französischen Gesandten in London, mußte Graf Walewski natürlich etwas gemäßigter Auftreten. Nichtsdestoweniger machten, inmitten des Unwillens, den die Mtlitäradressen erzeugt und die neuen Paßquälereien, welche den Engländern ihre gewohnten Ausflüge nach Calais, Bou- logne, Dieppe und Havre auf alle Weise erschwerten, noch vermehrt hatten, die Depeschen des Ministers auf der anderen Seite des Kanales den Eindruck, als habe er eben nur nothdürftig die innersten Herzensgedanken der Obersten aus dem Militärischen in's Diplomatische übersetzt und dienten daher nur dazu, den Zorn des verletzten britischen Nationalgefühles zu wahren Wuthausbrüchen zu steigern. Unter dem Datum des 20, Jänner hatte Walewski an Persigny eine zur Mittheilung an Lord Clarendon bestimmte Depesche des Inhalts gerichtet: „gleich den vorigen Attentaten sei auch das Complot vom 14. Jänner in England ausgebrütet und vorbereitet; dort werde die Theorie des Meuchelmordes zu einer förmlichen Doctrin erhoben, die man dann öffentlich predige und in wiederholten Versuchen praktisch verwirkliche; Europa sei darüber von starrem Entsetzen befallen; um so mehr sei Frankreich berechtigt, sich mit diesen Zuständen zu befassen, denn Gewährung der Sicherheit dürfe kein Staat seinem Nachbarn, geschweige denn einem Verbündeten versagen; nur das Wie der Abhilfe müsse Frankreich der englischen Regierung anheimstellen, die Abhilfe selber glaube es verlangen zu können." Lord Palmerston hatte zwar sofort gegen Dr. Bernard die gerichtliche Verfolgung wegen Theilnahme an einer Verschwörung einleiten, auf die Habhaftwerdung des entflohenen Alsopp einen Preis aussetzen, den Polen Tschorzewski und seinen Verleger, Truelove, sowie ein par andere Flüchtlinge auf Grund ihrer, den „Tyrannenmord" vertheidigenden Brochuren belangen lassen. Bald jedoch mußte der englische Premier inne werden, daß mit solchen Anklagen dem Tuilerienkabinete um so weniger zu genügen sei, als selbst im Falle der Berurtheilung nach den bestehenden Gesetzen nur auf äußerst milde Strafen erkannt werden konnte: denn das englische Gesetz definirt „Verschwörung ' nur als das Vergehen einer Berabre- dung zu unerlaubten Zwecken, wobei es gleichgiltig ist, ob die Verabredung das Auszischen eines Schauspielers oder eine Morthat beahsichtigt; nur das irische Recht hat aus Anlaß der agrarischen Ermordungen eigene Bestimmungen über „Mordverschwörungen" und -ahndet dieselben mit dem Tode. Allerdings blieb noch ein anderer Ausweg offen. Für Engländer, d. h. für Unterthanen Ihrer britischen Majestät, existirt ein Statut, das ihre Betheiligung vom britischen Boden aus an einer im Auslande verübten Mordthat, wie das Attentat unzweifelhaft eine solche war, zum Capitalverbrechen stempelt. Stellte man Bernard unter der Anklage, gegen dies Statut gefehlt zu haben, vor Gericht: so war es zweifelhaft, ein M a l, ob die gegen ihn vorliegenden Beweise in den Augen einer englischen Jury hinreichen würden, um ihn derdirek- t e n Participirung an dem Tode der Opfer Orsini's schuldig erscheinen zu lassen; zweitens, ob die Richter die Anwendung des Statutes gegen ihn in seiner Eigenschaft als Ausländer für zulässig erklären würden. Palmerston wollte dieses Experiment nicht wagen, sowohl des ungewissen Ausganges wegen, als auch weil ihm darum zu thun war, an dem Falle Ber- nard'S nachzuweisen, daß die bestehenden Parlamentsakte eine Lücke hätten, die ausgefüllt werden müsse, weil darin keine entsprechende Strafe für Mordverschwörungen zu finden sei. Daß nämlich an einen offenen Angriff auf das Asylrecht nicht zu denken sei, darüber konnte die in England herrschende Stimmung nicht den mindesten Zweifel auftommen lassen. Graf Walewski mußte sich daher, wohl oder übel, damit zufrieden geben, wenn Palmerston wenigstens einen ganz kleinen Bruchtheil der französischen Wünsche auf einem wetten Umwege zu erfüllen strebte. Das nun hoffte man durch eine Reform der inneren Legislatur zu erreichen, indem man ein eigenes Gesetz gegen Mordverschwörungen gab, das für ganz Großbritannien gelten und das in Rede stehende Verbrechen mit mehrjährigem Gefängnisse bedrohen sollte, was für Irland eine bedeutende Strafmilderung, für England eine nicht unwesentliche Verschärfung der Buße gewesen wäre. Aber auch diese Concession getraute Palmerston sich nicht zu machen, ehe nicht Walewski unter dem 6. Februar, in Folge der von Lord Cowley zu Parts gemachten Vorstellungen, eine neue Depesche an Graf Persigny gesandt hatte, worin er versicherte, „der Kaiser bedauere, daß aus Unachtsamkeit im „Moniteur" unter den zahlreichen Adressen auch zwei oder drei veröffentlicht wären, die anstößige Worte enthielten." Mit diesem Aktenstücke in der Tasche, glaubte der edle Viscount seiner Sache gewiß zu sein und brachte am 8. seine neue Mordver- schwörungsbtll im Unterhause ein. Er hatte sich gründlich verrechnet, sowohl in seiner Meinung über die öffentliche Stimmung, als auch in dem Vertrauen, das er auf seine französischen Bundesgenossen setzte. Der Zorn über Walewski's Depesche vom 20. hatte sich noch keineswegs gelegt; der Aerger darüber, daß ein britischer Minister eine solche Reprimande stillschweigend cinstecken konnte, ohne dem Absender die verdiente Antwort zu ertheilen, wurde durch die Depesche vom 6. Feber um so weniger beschwichtigt, ais die Ausflucht mit der angeblichen „Unachtsamkeit" denn doch zu lahm war und überdies der „Moniteur" auch nachher k*