Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)

Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres

138 Geschichte des Jahres. Dieser Quadrupelallianz gegenüber konnte die otto- manische Regierung sich nur in der Hoffnung auf entschlossenen Beistand von Seiten Oesterreich's und England's zu widersetzen wagen. Allein schon hatte sich gezeigt, daß auf Großbritannien, dessen Kräfte damals durch die täglich weiter um sich greifende Re­bellion der Seapoys auf's äußerste in Anspruch ge­nommen wurden und kaum zur Wiedereroberung Delhi's auszureichen schienen, nicht zu zählen war. Fast gleichzeitig mit der Flaggendemonstration in Constantinopel hatte Louis Napoleon der Königin Victoria persönlich einen Besuch zu Osborne auf der Insel Wight abgeftattet: und hier hatte Graf Wa- lewski, die prekaire Lage England's benutzend, Lord Palmerston beredet, den Sultan ebenfalls int Stiche zu lassen. Somit blieb dem Letzteren kein anderer Ausweg übrig, als unbedingte, Nachgiebigkeit. Die Wahlen in der Moldau wurden annullirt, und neue angeordnet, die unter diesen Umständen nicht nur unionistisch, sondern zugleich so radikal ausfielen, daß in dem moldauischen Divan vornehmlich politische Flüchtlinge und revolutionäre Parteiführer aus dem Jahre 1848 das große Wort führten. Der Triumph Napoleon's ward vervollständigt durch das Rendez­vous, das er am 25. September mit Kaiser Alexan­der II. in Stuttgart hatte und das, wenn schon von den dort etwa besprochenen Entwürfen nichts ver­lautete, doch durch die bloße Wahl des Datums die Welt zu sehr an die Erfurter Zusammenkunft Na­poleon's I. und Alexander's I. von 1809 mahnte, als daß es nicht Aller Herzen mit unklaren Befürch­tungen von einer russisch-französischen Allianz und deren ehrgeizigen Zielen hätte erfüllen und die do- minirende Stellung des Imperialismus wesentlich hätte befördern sollen. Jndeß der Rückschlag fand eben so schnell statt: wenige Tage reichten hin, um den Unbefangenen zu belehren, wie v i e l an diesen scheinbaren Errungenschaften Flitterstaat, wie wenig echtes Gold daran gewesen. Schon daß die Czarina ruhig in Darmftadt blieb, ohne die par Meilen nach Stuttgart zurückzulegen, während doch sämmtliche Zeitungen meldeten, daß Kaiserin Eugenie in Paris reisefertig sei, um der Staatsvisite beizuwohnen, hatte den Glanz des Stuttgarter Tages erheblich ge­trübt. Nun aber brach gar Kaiser Franz Josef I. von Wien auf, um am 1. October in Weimar eben­falls mit Alexander II. zusammenzutreffen. Drang auch über die Ergebnisse des Weimarer Rendezvous eben so wenig in die Oeffentlichkeit, wie über dieje­nigen des Stuttgarter: so fühlte doch Jedermann — und die bitteren Bemerkungen der Pariser Presse be­wiesen, daß manes in den Tuilerien nochmehr als an­derwärts empfand — wie der Stuttgarter durch die Weimarer Zusammenkunft die Spitze abgebrochen und der gegen den Frieden Europa's gekehrte Stachel ausgerissen ward. Der Besuch in Weimar war min­destens ein offenkundiger Protest gegen die Ansicht, als gedenke der Selbstherrscher aller Reußen sich Frankreich unbedingt und ausschließlich in die Arme zu werfen: und die letzten zwölf Monate haben zur Genüge gezeigt, wie recht die öffentliche Meinung hatte, wenn sie das welthistorische Ereigniß von Weimar als ein Zeugniß dafür auffaßte, daß Ruß- : land zwar Frankreich gestatten wolle, um seine 1 Freundschaft zu buhlen, selber jedoch mit dem Ab- j schlösse eines Bündnisses durchaus keine' Eile habe. ; MittlerweilewarindenletztenTagendesSept.Delhige- j fallen: und kaum war die Nachricht von dem glücklichen Sturme am Goldenen Horné angelangt, als auch schon Reschid Pascha, der Schützling des allmächtigen I britischen Botschafters, Lord Redcliffe, auf's neue in 1 dem Großvezirate installirt ward. Das geschah be­reits am 22. October 1857. Vergeblich versuchte I Herr v. Thouvenel eine nochmalige Flaggeneinzie- j hung in Scene zu setzen: Rußland, Preußen und Sardinien versagten ihre Mitwirkung. Vergeblich er- j klärte er dem Padischah, Frankreich werde diesen Akt . als eine Beleidigung ansehen: Abdul Medschid berief • sich auf sein unanfechtbares Recht, seine Diener und ' Räthe nach eigenem Ermessen zu wählen. Er mußte | sich zuletzt mit der ohnmächtigen Kundgebung seines ' Zornes, daß er sich lange Zeit weigerte mit Reschid j Pascha in irgend einen officiellen Verkehr zu treten begnügen; und es ruhig mit ansehen, wie dieser es e Einen der ersten Akte seiner Regierung sein ließ, den 7 inzwischen einberufenen Divan's anzuzeigen, er werde! ■ sie allsogleich auflosen, wenn sie sich irgend wie mit : politischen Fragen befaßten, statt sich lediglich auf diej ■ Discussion ihrer internen und Verwaltungsangele-I- genheiten zu beschränken. Die Nachwirkung der Ein- \~ nähme Delhi's wäre jedenfalls eine nachhaltigere : gewesen, wenn nicht um dieselbe Zeit die Abreise Lord ■ Redcliffe's und der Tod Reschid Pascha's die Pforte derjenigen beiden Staatsmänner beraubt hätte, aus i deren Beistand sie in diesen schweren Zeiten vorzüglich t angewiesen war, um den vereinten Uebergriffen Ruß-' land's und Frankreich's zu trotzen. Lord Redcliffe ver­ließ Constantinopel und seine langjährige Ambassade Ende December, und Anfangs Jänner rafften Gehirn­kongestionen ganz unerwartet Reschid Pascha dahin. . Der Gesandte ging angeblich blos „auf Urlaub" fort: : seine zeitweilige Abberufung war wohl noch eine der ; Congestionen, die Palmerston in Osborne gemacht; ; und der britische Minister mochte seine Zusage viel­leicht um so so lieber erfüllen, als Earl Stratford de Redcliffe für jedes Kabinet ein gar ungefüges und c unbequemes Werkzeug war — hatte er doch noch im : August dem Sultan gerathen, auf der Richtannullirung f der moldauischen Divanswahlen zu beharren, auch ' nachdem er aus Downingstreet angewiesen war, den r gerade entgegengesetzten Weg bei der Pforte zu be- - fürworten. Der Sturz Palmerfton's und die Jnstal- lirung der Tories im Ministerium trugen dann das : Ihre dazu bei, die Beurlaubung in eine definitive

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