Walter Goldinger: Ergänzungsband 5. Geschichte des Österreichischen Archivwesens (1957)
Einleitung
Einleitung. Anders als bei Museen und Bibliotheken, deren Reichweite unbegrenzt ist und deren Eigenart in Anlage und Gestaltung häufig durch bedeutende Sammlerpersönlichkeiten geprägt ist, ist das Wesen und damit auch die Geschichte der Archive zu betrachten. In diesen kommt das statische Moment stärker zum Ausruck. Sie sind nicht dazu berufen, vom Standpunkt des Kunstfreundes oder des wissenschaftlichen Enzyklopädisten aus ihren Kulturaufgaben zu obliegen, in den meisten Fällen können sie gar nicht voll darüber entscheiden, was und vor allem wann etwas in ihre Lager aufgenommen wird. Darüber bestimmen andere, überindividuelle Kräfte, letzten Endes das, was man gemeinhin Geschichte nennt. Archive sind Ausdruck und Funktion eines Gemeinschaftslebens, eines bald kleineren, bald größeren, eines wohl vergangenen, trotzdem in seinen Ausstrahlungen in die fernste Zukunft fortwirkenden Gemeinschaftslebens. Wenn der Italiener Pistolese *) in seinem Überblick über die Geschichte des abendländischen Archivwesens drei Zeitalter erkennen will: das mittelalterliche, das absolutistische und das revolutionär-moderne, so ist der Blickpunkt nicht ganz glücklich gewählt. Es ist die Sicht des Archiv- benützers, von der aus die Entwicklung des europäischen Archivwesens in solchem Lichte erscheinen mag. Die Frage der Zugänglichkeit für wissenschaftliche Forschungen wird dabei als das entscheidende Kriterium betrachtet. Daraus ergibt sich eine gewisse Einseitigkeit. Denn die Archive sind ihrem Werdegang nach primär nicht von der Wissenschaft her geprägt. Darum ist die Periodisierung, die Löher in seiner 1890 erschienenen Archivlehre mit seinen sieben Zeitaltern der deutschen Archive gibt, so kraus auch seine Gedankengänge vielfach sind, dem Gegenstände weit eher angemessen. Legt man, um die Epochen des österreichischen Archivwesens zu erkennen* 2), an den entscheidenden Stellen Querschnitte, so tritt uns zunächst der Begriff eines „Schatzarchivs“ entgegen, der hier wie anderwärts die älteren Jahrhunderte der Entwicklung bestimmt. Der Schatz an sich ist ein Kulturphänomen, von dessen Entfaltung sich die Bibliotheken und Archive *) Serafino Pistolese, Les archives européennes du onziéme siede ä nos jours, Rom 1934; auch in Archivi d’Italia II/l, 251 ff. 2) Goldinger, Epochen des österreichischen Archivwesens. Mitt. d. Österr. Staatsarchivs 2 (1949), 81—83. Goldinger: Geschichte des österr. Archivwesens. 1