Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/2. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1951)

VI. Kirchengeschichte - 64. Friedrich Engel-Jánosi (Washington): Zwei Studien zur Geschichte des österreichischen Vetorechtes

294 Engel-Janosi, aber es mag die Frage gestellt werden, ob mit der nach Österreich-Ungarns Einspruch erfolgten Wahl des Kardinals Sarto, dem ehemaligen Staatssekretär Leos, dem „Kardinal“ — wie er zur Zeit seiner Machtfülle genannt wurde — die Chancen, auf den Stuhl Petri erhoben zu werden, endgültig genommen waren. Es ist ebenfalls bekannt, daß Pius X. — wie der neugewählte Papst sich nannte — das Staatssekretariat nicht an den Vertrauensmann seines Vorgängers, sondern an den Kardinal Merry del Val verlieh. Die Niederlage im Konklave und das Ausscheiden aus dem Staatssekretariat haben mehrfach Anlaß gegeben, das Schicksal Rampollas mit dem Consalvis zu vergleichen; und mehr als einmal wurde hervorgehoben, daß das neue Pontifikat den Einfluß Rampollas gänzlich beseitigt hat: von seiner Vereinsamung, ja von einer Art Ver­bannung wurde gesprochen — und warum sollten alle jene, die ihn einst umworben hatten, solange er im Vatikan der mächtigste Mann nach dem Papst gewesen war, in seinem Falle den bekannten Grundsätzen menschlichen Verhaltens untreu geworden sein ? Wobei nicht zu übersehen ist, daß es auch in diesem Fall einige Ausnahmen gab — der künftige Benedikt XV. war unter ihnen zu finden. Seiner Natur und seiner Geschichte nach stellt sich das von der Kirche niemals formell anerkannte Jus exclusivae als etwas so sonderbares dar, daß der Historiker kaum verwundert sein wird, höchst abnormale Ereignisse damit in Zusammenhang gebracht zu finden; es dürfte aber nicht häufig vorgekommen sein, daß der Staat, der einen Kardinal von einer Wahl formell ausgeschlossen hatte, sich anschickte, bei der nächsten Sedisvakanz die Erhebung eben dieses Kirchenfürsten zu begünstigen. Was konnte die Ursache, die Erklärung für einen solchen Umschwung in der Haltung einer Großmacht und vollends während der Regierung eines und desselben Monarchen bilden ? Es ist des öfteren versucht worden, eine Regel aufzustellen, derzufolge auf das Pontifikat eines „politischen“ Papstes die Regierung eines ausschließlich „religiösen“ folgte; ist es so, daß man, nachdem dem „politischen“ Leo XIII. der ausschließlich „religiöse“ Pius X. gefolgt war, dieser Richtung nun müde werdend, in dem einstigen Kardinal-Staatssekretär das geeignete künftige Oberhaupt der Kirche erblickte ? Ganz auszuschließen sind solche Erwägungen wohl nicht, aber gewiß reichen sie nicht zu einer irgend befriedigenden Erklärung der Wendung aus. In früheren Zeiten hatten die Großmächte den Grundsatz verfochten: „semel exclusus, semper exclusus“; sie waren aber mit diesem Anspruch nicht durchgedrungen, da ja dann ein Staat mehr als nur einen Kardinal von der Erwählung hätte ausschließen können 1). Hier, wie in unserer ersten Studie wird davon auszugehen sein, daß die konstante Beobachtung des Kardinalkollegs und eine periodische eingehende diplomatische Bericht­erstattung über die Zusammensetzung desselben zur Tradition des Ballhausplatzes gehörte. Als Graf Szécsen anfangs Jänner 1908 die Aussichten eines künftigen Konklaves „akademisch“ zu erörtern unternahm, betonte der österreichische Botschafter am Eingang seines Berichts den „recht guten“ Gesundheitszustand Pius X. 2). Für die Doppelmonarchie seien in dem Fall einer zukünftigen Sedisvakanz die Chancen Kardinal Rampollas von besonderem Interesse. „Seit dem letzten Konklave hat der ehemalige Staatssekretär Leos XIII. sich demonstrativ von den Geschäften zurückgezogen; seine ambitiösen Pläne aber hat er deshalb, glaube ich, keineswegs aufgegeben.“ Der Kardinal zählt noch viele Anhänger im Kolleg. „Das gegen ihn ausgesprochene Veto hat ihm in den Augen derjenigen, die auf die Privilegien der Kirche besonders eifersüchtig wachen, vielleicht sogar einen gewissen 2) Vgl. Berichte Graf Szécsen, Rom, 8. Jänner 1908 und Paris, 29. April 1911, Geheime Liasse, XXXVI/4. 2) Rom, 8. Jänner 1908, N. 1 A. Streng vertraulich. Geheime Liasse XXXXVI/4. StA. Diesem Bericht sind auch die folgenden Zitate entnommen. — Alle in diesem Aufsatz angeführten Akten befinden sich im Österreichischen Staatsarchiv.

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