Radek Tünde - Szilágyi-Kósa Anikó (szerk.): Wandel durch Migration - A Veszprém Megyei Levéltár kiadványai 39. (Veszprém, 2016)

4. Folgen von Migrationsprozessen auf die Literatur - Hammer Erika: Ein Entwurf von der Welt. Bewegung als Ver-Wandlung der Welt in der Poetik von Herta Müller

258 Hammer, Erika: Ein Entwurf von der Welt 2007: 12) werden können. Grenzerfahrung ist somit als Erfahrung von Fremd­heit, als Verstörung und als ein Umordnen zu verstehen. Müller erschafft mit Hilfe der Sprache, mit den genannten Transformatio­nen und Grenzüberschreitungen imaginäre Topographien, in denen die Diskre­panz zwischen Realem und Fiktionalem aufgehoben wird, denn die miteinander unvereinbaren Sphären werden — zumindest auf dem Raum des Blattes — ver­söhnt. Diese Topographie, die Nirgendwo-Räume schafft, ist hier verortet und ist berufen das Sehen, ein neues Sehen zu ermöglichen. Es ist eine Position an den Grenzen der Ordnung, die gerade deswegen einen neuen Blick ermöglicht. Verortung hat viel mit Kultur, mit der „identitätslogischen“ Auffassung von Kultur zu tun. Gemeint ist damit, dass Kultur als eine stabile Ordnung von Sinnbeständen verstanden wird, die unsere Welt und unseren Alltag vorstruktu­riert (vgl. Fletzel 2004). Gekoppelt ist dies mit Stereotypen des Denkens und der Wahrnehmung, mit Standardisierungen. Es geht um symbolische Ordnungs­muster, die Weltbilder, Wertesysteme speichern und transportieren. Die Vor­strukturierung unserer Wahrnehmung erzeugt die Identität der Gegenstände. Das bedeutet aber auch, dass die Welt nicht erkannt, sondern vielmehr wieder­erkannt wird. Alles wird auf Bekanntes zurückgeführt, was zur Erstarrung und nicht zuletzt zur Täuschung führt. Die Sprache bedeutet bereits eine Fessel und ist Ursache grundsätzlicher Irrtümer. Es gibt also spätestens seit der Moderne einen Reflexionsprozess, der auf einen erkenntnis- und sprachkritischen Zusam­menhang tradierter Ordnung, des kulturellen Systems verweist Das Wiederer­kennen als „Gleichsetzung des Nichtgleichen“ (Nietzsche 1966: 311), das als das Fundament unserer Weitsicht gilt, korrespondiert mit der bei Müller zentralen Problematik der Wahrnehmung und der Sprache. Die hier reflektierte Problematik hängt bei Müller — wie in der Tradition — mit einer Krise der Sprache zusammen, damit, dass das Gelebte „mit Worten nicht kompatibel“ ist (Müller 2009: 86). Wirklich Geschehenes lässt sich niemals „eins %u eins mit Worten fangen“ (Müller 2009: 86). Der einzige Ausweg aus dieser Diskre­panz erscheint darin, das Gelebte gänzlich neu zu erfinden. Beschrieben wird auch, was dieses Erfinden im Einzelnen bedeutet, nämlich „vergrößern, verkleinern, vereinfachen, verkomplizieren, erwähnen, übergehen — eine Taktik, die ihre eigenen“ Wege geht und das Gelebte nur noch zum Vorwand hat (Müller 2009: 86). Und den­noch, da man um die Sprache nicht herum kann, bleibt einem die Pflicht „abgu- lauschen, was sie mit den Menschen tut. In jedem Kontext trägt sie ihre Absichten vor sich her. Wenn man hinhört, kann sie nicht verbergen, was sie mit Menschen im Sinn hat.“

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