Gertrude Enderle-Burcel, Dieter Stiefel, Alice Teichova (Hrsg.): Sonderband 9. „Zarte Bande” – Österreich und die europäischen planwirtschaftlichen Länder / „Delicate Relationships” – Austria and Europe’s Planned Economies (2006)

Andrea Komlosy: Österreichs Brückenfunktion und die Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhangs“

Andrea Komlosy 180 000 Personen nach Österreich, von denen 18 000 hier ansässig wurden, der Rest betrachtete Österreich als Transitland.64 Während der 1950er Jahre war Wien wiederholt Schauplatz von Jugend-, Sport- und Friedensveranstaltungen, die Begegnungen über die Systemgrenzen hinweg ermöglichten. 1961 fand das Gipfel­treffen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow in Wien statt, das die Annäherung zwischen den beiden Großmächten einleitete.65 Mit der Entspannung der politischen Beziehungen in den 1960er Jahren nahmen auch die wirtschaftlichen Kontakte zu. Die Abschwächung des Wiederaufbauzyklus und die inneren Wachs­tumsbarrieren hatten in Ost und West Interesse an der gegenseitigen Ausweitung von Handelsbeziehungen geweckt. In den 1960er Jahren liefen die Außenhandels­aktivitäten zwischen West- und Osteuropa langsam an. Auf Grund des staatlichen Außenhandelsmonopols der realsozialistischen Länder wurde jede Außenhandelstätigkeit über die dafür vorgesehenen Staatshandelsfirmen abgewickelt; Produkte, Mengen, Kontingente und Preise wurden länderweise festgelegt. Dies hatte zur Folge, dass auch westliche Firmen, die mit dem Ostblock Handel trieben, in das Planungssystem hineingezogen wurden. Anbahnung, Vermittlung und Abwicklung solcher Export-Import-Geschäfte zwischen Markt- und Planwirtschaften stellten eine Marktlücke dar, die ein bestimmtes Know-how, Erfahrung und gute Kontakte mit den offiziellen Stellen der Ostblockstaaten erforderte. Österreichische Unternehmen boten ihre Dienste nicht nur für einheimische Firmen, sondern auch für Unternehmen aus anderen westlichen Staaten an. Österreichische Osthandelsfirmen konnten sich bei der Anbahnung und Abwicklung von Geschäften profilieren. Österreichische Banken bewerkstelligten die Finanzierung, die Unternehmen der Verstaatlichten Industrie traten nicht nur im Export, sondern auch im Anlagenbau sowie im Know-how-Transfer auf. Der Höhepunkt der österreichischen Mittlerrolle lag in den 1960er und 1970er Jahren. Sie umfasste die Kommunikation in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, eröffnete Möglichkeiten der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und führte zu Erleichterungen im Reiseverkehr. Die Vermittlungstätigkeit nahm mit der Ausweitung der Ost-West-Beziehungen einerseits zu, andererseits verlor Österreich in der Mitte der 1970er Jahre seinen exklusiven und privilegierten Zugang zu den Oststaaten.66 64 Zier er, Brigitta: Willkommene Ungarnflüchtlinge 1956?. ln: Heiss, Gernot - Rathkolb, Oliver (Hg.): Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instititutes für Geschichte und Gesellschaft Bd. 25. Wien 1995, S. 157-171. 65 Vgl. Sommer, Monika - Lindinger, Michaela (Hg.): Die Augen der Welt auf Wien gerichtet: Gipfel Chruschtschow - Kennedy. Innsbruck 2005. 66 Stermann: Die Funktionen des Außenhandels, S. 46. 90

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