Günter Dinhobl (Hrsg.): Sonderband 7. Eisenbahn/Kultur – Railway/Culture (2004)
II. Die Wahrnehmungen von Raum / The perceptions of space - Ralf Roth: Die Verkürzung von Raum und Zeit: Konsequenzen der Eisenbahn für die Wahrnehmung der Stadt
Ralf Roth Riesenstädten nahm zu und mit dem Unbehagen waren Absetzbewegungen verbunden: Das Wohnen und Leben außerhalb der Stadt gewann an Attraktivität. Villenkolonien vor der Stadt Am Beginn des Eisenbahnzeitalters war in vielen Denkschriften zu Eisenbahnprojekten die Siedlungswirkung der Eisenbahn hervorgehoben worden. Im Gegensatz zum Berliner Magistrat, der seine Vorstellungen zu Beginn der Siebzigerjahre entwickelte, dachte der badische Kommerzienrat Ludwig Newhouse rund vierzig Jahre zuvor weniger an einen Massenwohnungsbau für Hunderttausende von Binnenwanderem, sondern skizzierte die grundlegenden Rahmenbedingungen für ein gesundes, natumahes Wohnen des wohlhabenden Bürgertums.2* Er zielte damit auf den bereits damals weit verbreiteten Wunsch, das Leben in den dunklen und dicht bebauten Innenstädten durch ein Wohnen in Gartenarealen vor den Städten zu ersetzen. Einer der Ersten, der in Berlin diesen Zusammenhang von Eisenbahn und Wohnen im Grünen erkannte, war der Immobilienmakler Johann Anton Wilhelm Carstenn. Er gehörte zu den Gewinnern der wirtschaftlichen Aufschwungsperiode in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Carstenn hatte sich früh für das Immobiliengeschäft interessiert. Von den ersten Gewinnen kaufte er im Jahre 1857 ein Gut bei Hamburg, ließ das Schloss abreißen, parzellierte den Schlosspark und verdiente mit dem Verkauf ein Vermögen. Carstenn bemühte sich gezielt um eine komfortable Eisenbahnanbindung für seine Kolonie, um den Zuzug wohlhabender Hamburger zu befördern.2'2 In den Sechzigerjahren reiste Carstenn nach England, um sich von den Wohnungsbaugesellschaften Londons inspirieren zu lassen. Großbritannien galt im 19. Jahrhundert in Architektur, Städtebau, Landerschließung und in Hinsicht auf seine * 13 2“ Vgl. N e w h o u s e : Vorschlag zur Herstellung einer Eisenbahn, S. 126. 29 Vgl. W o 1 fe s, Thomas: Die Villenkolonie Lichterfeld. Zur Geschichte eines Berliner Vorortes ( 1865- 1920). Berlin 1997, S. 39. Die Eröffnung der Bahnlinie im Jahre 1865 und die Einrichtung einer Station beförderte die weitere Entwicklung Marienthals tatsächlich ungemein Die Bevölkerung der Gemeinde wuchs stetig von etwas mehr als 200 Einwohnern auf 1 305 im Jahre 1878 an. Innerhalb von 13 Jahren hatte sich die Bevölkerungszahl mehr als versechsfacht und die meisten neuen Bewohner stammten, wie von Carstenn erhofft, aus Hamburg. 1869 musste sogar eine zusätzliche Pferdebahn nach Wandsbek gebaut werden. Vgl. Puvogel: Der Wandsbecker Stadtbezirk Marienthal, S. 43. Zum Kauf vgl. Grabke, Wilhelm: Wandsbek und Umgebung. Eine heimatkundliche Betrachtung des Lebensraumes im Osten Hamburgs. Hamburg I960, S. 137; Spörfiase, Rolf: Wohnungsuntemehmungen im Wandel der Zeit Hamburg 1947. Zur Biographie Carstenns siehe Pappenheim, Hans: Carstenn-Lichterfelde, ln: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. O. O. 1970, Bd. 1, S. 98-101. 148