Günter Dinhobl (Hrsg.): Sonderband 7. Eisenbahn/Kultur – Railway/Culture (2004)

II. Die Wahrnehmungen von Raum / The perceptions of space - Ralf Roth: Die Verkürzung von Raum und Zeit: Konsequenzen der Eisenbahn für die Wahrnehmung der Stadt

Verkehrsanlagen als das Vorbild Europas. So hatte auch Carstenn die Situation in London mit seinen großzügigen und verkehrsmäßig gut an die Innenstadt angebundenen Vororten vor Augen, als er versuchte, sich mit Großprojekten auf dem Berliner Immobilienmarkt zu etablieren. Entsprechend dem Londoner Beispiel schlug er vor, Berlin durch Vororte großzügig zu erweitern, die mitten in grüner Landschaft liegen sollten.10 11 Im Jahre 1865 kaufte er im Berliner Umfeld zwei Rittergüter und begann mit den Planungen für die Villenkolonie Lichterfelde. Fünf Jahre später folgte der Kauf des Ritterguts Wilmersdorf, auf dem er die Kolonien Wilmersdorf und Friedenau anlegen wollte. Für den Erfolg seiner Koloniengründungen sah er wie in Hamburg einen Anschluss an die Eisenbahn als eine unerlässliche Voraussetzung an. Er nahm deshalb Verhandlungen mit der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft auf und tatsächlich glückte ihm 1868 eine Vereinbarung zur Einrichtung einer Haltestelle für Lichterfelde. Doch im Allgemeinen stieß die Idee von zusätzlichen Haltepunkten für die kleinen Kolonien bei den Eisenbahngesellschaften auf geringes Interesse. Der Aufwand und die Fahrtverzögerungen auf den großen Fembahnstrecken stand in keiner Relation zu den geringen Einnahmen aus dem Personenverkehr von kleinen Gemeinden mit nach Hunderten zählenden Einwohnern.11 Zwar entstanden zwischen 1863 und 1871 kleine Siedlungen wie Ahlsen am Wannsee, Lichterfelde, Hirschgarten, Friedenau, Tempelhof, Wilmersdorf, das Westend, Giesendorf oder Düppel, doch hielten sich diese Siedlungsexperimente in engen Grenzen. Die Kolonien entwickelten sich nur langsam. Mit der Gründerkrise brachen die Grundstückspreise ein und Carstenns Einnahmen sanken dramatisch. Um seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, musste er seine „Grundstücke weit unter Wert verkaufen [...]. Der Rest wurde zwangsversteigert oder gepfändet.“12 Mit dem Konkurs Carstenns endete die erste Phase der Errichtung von begrünten Villenvorstädten im Berliner Raum. Die Verkürzung von Raum und Zeit: Konsequenzen der Eisenbahn tur die Wahrnehmung der Stadt 10 Vgl. Wo I fe s : Die Villenkolonie Lichterfelde, S. 49. 11 Carstenn hatte sich das Zugeständnis teuer erkauft, indem er den Boden für den kleinen Bahnhof kostenlos zur Verfügung stellte und auch für die laufenden Kosten aufkam. Vgl. Ebenda, S. 37 u. Ascher, Hans-Joachim: Die Entstehung eines Vorortes von Berlin. In: Mitteilungen des Vermessungsamtes Berlin 9 (1978), S. 31-50, hier S. 33. Außerdem verhandelte er mit staatlichen Stellen und versuchte die Militärverwaltung für den Bau einer Kadettenanstalt zu begeistern. Zur Verhandlung Carstenns mit der Anhaitischen Bahn vgl. Bley, Peter: 150 Jahre Berlin-Anhaltische Eisenbahn. Düsseldorf 1990, S. 57-62. 12 Wolfes: Die Villenkolonie Lichterfelde, S. 37. Carstenn machte „die vielen einzelnen Unternehmer, die ohne einheitliche Planung und ohne Ziel rund um Berlin Villenkolonien gründeten", für die Krise verantwortlich. Seiner Meinung nach hatten sie eine Preisspirale in Gang gesetzt, die zu dem Börsenkrach von 1873 führte. „Er kritisiert in seiner Schrift, daß auch 1892 noch kein einheitlicher Gesamtplan für die Ausdehnung Berlins existiere." E b e n d a, S. 45. 149

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