Günter Dinhobl (Hrsg.): Sonderband 7. Eisenbahn/Kultur – Railway/Culture (2004)
II. Die Wahrnehmungen von Raum / The perceptions of space - Ralf Roth: Die Verkürzung von Raum und Zeit: Konsequenzen der Eisenbahn für die Wahrnehmung der Stadt
allem in einer Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen dem Eisenbahnnetz im Osten mit dem im Westen bestand. Aus diesem Grund blieb die bis 1882 vollendete großräumige Verkehrsanlage weit hinter den Dimensionen des Projekts von 1871 zurück. Der Durchmesser des unregelmäßig geformten Schienenrings betrug nur zwischen fünf und acht Kilometer an Stelle der ursprünglich geforderten zehn. Statt weit ab von der Stadt verlief die Strecke der Ringbahn meist mitten durch Bauerwartungsland und bildete weit weniger eine Konkurrenz zum umkämpften Bodenmarkt der Stadt als beabsichtigt. Auch das hochgesteckte Ziel eines gesunden großzügigen Wohnungsbaus mitten in natumahen Gebieten wurde auf diese Wiese nicht erreicht. Stattdessen entstand in den Achtziger- und Neunzigerjahren als Ergebnis der Ringbahn der wilhelminische Siedlungsring, der in der späteren Stadtplanungskritik als das „Steinerne Meer“ (Hegemann) bezeichnet wurde.25 Die Terraingesellschaften drangen schnell vor, kauften das Land entlang der Ringbahn auf und bebauten das Gelände unter maximaler Ausnutzung der Bauordnung mit sechsgeschossigen Mietblöcken für Angehörige der Mittelschichten und Arbeiter. Doch die neuen Bauten wurden auf Grund der anhaltenden Zuwanderung rasch wieder überbelegt.2'' Trotz der vielen Baumaßnahmen löste die Stadtverwaltung die sozialen Probleme letztendlich nicht. Zusammen mit der Kritik an den sozialen Verhältnissen trugen die Lebensbedingungen in dieser „cohärenten Steinmasse“ zum Aufkommen stadtfeindlicher Strömungen bei - wie sie von dem Wiener Eisenbahnkomitee rund dreißig Jahre zuvor prophezeit worden waren.27 Das Unbehagen in den neuen Die Verkürzung von Raum und Zeit: Konsequenzen der Eisenbahn für die Wahrnehmung der Stadt 25 He ge mann, Werner: Das steinerne Berlin. Geschichte der grössten Mietskasemenstadt der Welt. Berlin o. J., S. 2; S c h e ff 1 e r, Karl: Wandlungen einer Stadt. Berlin 1931, S. 24 ff. Zum Hintergrund vgl. Bernhardt: Bauplatz Groß-Berlin, S. 33, 43 f., 51 ff. u. 135 ff. Zum Massenwohnungsbau vgl. Neumeyer, Fritz: Massenwohnungsbau, ln: Exerzierfeld der Moderne, Bd. 1, S. 224-231. Zur Rolle der Stadtbahn als Grenze für die verschiedenen Bauordnungen vgl. Müller, Dieter O.: Verkehrs- und Wohnstruktur in Groß-Berlin 1880-1980. Geographische Untersuchungen ausgewählter Schlüsselgebiete beiderseits der Ringbahn. Berlin 1978, S. 87 ff. Zum Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und der Bodenspekulation vgl. B e r 1 i n und seine E i s e n b a h n e n , Bd. 1, S. 101 ff. u. 1 14 ff. 26 Zum Bau vgl. Die Berliner Stadtbahn. Ihr Bau, und ihre Entwicklung 1882 bis 1887. In: Archiv für Eisenbahnwesen 11 (1888), S. 2-62; Frank, Eduard: Der Betrieb auf den englischen Bahnen. Wien 1886, S. 47-50; Berlin und seine Eisenbahnen, Bd. 1, S. 304-341 u. Bd. 2, S. 239 ff. u. 242; Erbe, Michael: Probleme der Berliner Verkehrsplanung und Verkehrserschließung seit 1871. In: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Dietrich Kurze. Berlin- New York 1972, S. 209-235, hier S. 211 f.; S i e w e rt, Horst Henning: Die Bedeutung der Stadtbahn für die Berliner Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert. Berlin 1978, S. 195. 27 Zur Furcht vor der „cohärenten Berliner Steinmasse“ vgl. Rad icke: Öffentlicher Nahverkehr und Stadterweiterung, S. 350. 147