Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
deutsche Gesandtschaft übersiedelt war, vor allem die überfüllten Quartiere hervor, in denen die eingeschlossenen Zivilisten Zuflucht gefunden hatten.212 Am Tage ihrer „Befreiung“ verfügten die Gesandtschaften nur noch über Lebensmittel für zehn Tage. In der Kathedrale von Beitang, zu der die Gesandtschaften zwei Monate jeden Kontakt verloren hatten, „war man schon seit längerer Zeit auf halbe Rationen gesetzt und auch diese waren nur mehr für 2 Tage vorhanden.“ Rosthom berichtete, dass das k. u. k. Marinedetachement mit Munition „verhältnismäßig am besten versorgt“ gewesen war, während Russen, Japaner und Italiener nur „sehr ungenügend“ ausgerüstet gewesen wären.213 Die vollständige Unterbrechung der Kommunikation mit der Außenwelt beeinträchtigte die psychische Situation der Belagerten deutlich.214 „Prinz Qing und Andere“ hatten es Mitte Juli unter anderem abgelehnt, eine Verbindung zur etwa drei Kilometer entfernten Nord-Kathedrale herzustellen. Dort waren 2 000 chinesische Christen und die katholische Geistlichkeit unter militärischem Beistand von 30 Franzosen und 10 Italienern zwei Monate lang heftigen Angriffen ausgesetzt. Die ersten Nachrichten aus Tianjin kamen am 18. Juli durch einen vom Kommandanten des in Beijing kämpfenden japanischen Detachements am 4. Juli abgeschickten Kurier nach Beijing. Dieser Kurier - dem es als Einzigem gelang, zweimal die feindlichen Linien zu passieren - hatte Tianjin am 14. Juli erreicht, und wenig später - so mutmaßte Rosthom — dürfte diese die erste authentische Nachricht über das Befinden der Belagerten gewesen sein, die über Japan nach Europa gelangen sollte. Rosthom selbst hatte von dieser Gelegenheit aus zwei Gründen keinen Gebrauch gemacht: erstens hatte er den Chiffreschlüssel der k. u. k. Gesandtschaft vorsorglich vernichtet, zweitens hatte die Monarchie keine eigene Vertretung in Tianjin: Die Mittheilungen durften nur ganz kurz sein, da sie in die Kleider des Boten eingenäht wurden und mussten chiffrirt oder ganz unverfänglich sein, weil sie den Chinesen in die Hände fallen konnten.215 Auch unmittelbar nach dem Ende der Belagerung war die Kommunikation mit der ,Außenwelt“ äußerst schwierig. Da der Feldtelegraph „ständig unterbrochen“ war, konnte Rosthom zumindest bis zum 19. August keine Depesche von Beijing aus absenden. Da er den englischen Konsul in Tianjin nicht mit der Vermittlung der Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China Briefe der Frau v. Rosthom. ln: Fremden-Blatt, Nr. 296 vom 28.10.1900, Morgenblatt, S. 3. 213 HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 3/2. Serie, Shanghai, 10.9.1900. 214 Vgl. dazu Briefe der Frau v. Rosthom. ln: Fremden-Blatt, Nr. 296 vom 28.10.1900, Morgenblatt, S. 3 f.: „Nun ist sie also glücklich vorbei, diese Belagerungszeit, lang genug war sie; von jeder Verbindung mit der Welt abgeschnitten, vom 3. Juni bis zum 14. August. Jeder freut sich der wiedergewonnenen Freiheit [...].“ 215 HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Goluchowski, Bericht No. 3/2. Serie, Shanghai, 10.9.1900. - Zum Eintreffen der ersten Nachrichten aus Tianjin vgl. auch Briefe der Frau v. Rosthom. ln: Fremden-Blatt, Nr. 296 vom 28.10.1900, Morgenblatt, S. 3, W interhalder (1902), S. 321. 83