Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
Georg Lehner - Monika Lehner geschlagen haben sollen, eben doch nur uniformirte und bewaffnete Pöbelmassen sind, welchen das Prestige des europäischen Militärs eine fast abergläubische Furcht einflößt, die sich darin äußerte, dass von den Chinesen während der ganzen Zeit der Belagerung nicht ein einziger Sturmangriff gemacht, hingegen viele Stunden und tagelang und in’s besondere [sic!] in der Nacht das heftigste Gewehrfeuer unterhalten wurde, anscheinend nur um uns von Ausfallen abzuschrecken. Über die Kampfweise der chinesischen Truppen berichtete Rosthom, dass man die Soldaten „fast nie“ zu sehen bekommen hätte, lediglich die Gewehrläufe hätten über die Mauern und Barrikaden geragt: Blindlings abgedrückt und rasch wieder geladen, hatten die feindlichen Gewehre bei einem Munitionsverbrauch, der nicht unter 2 Millionen geschätzt werden kann, selbst auf Distanzen von 20 Metern - und darüber ging die Entfernung ihrer Position kaum hinaus - kaum eine nennenswerthe Wirkung, und die ,Angriffe’, welche Anfangs stündliche Alarmsignale und einen überaus aufreibenden Dienst zur Folge hatten, erwiesen sich stets so harmlos, dass sie zuletzt nicht einmal mit einer Verstärkung der Posten beantwortet wurden. Auf diese Weise gelang es den Angreifern nur, die Dächer der den Fremden verbliebenen Gebäude weitgehend zu zerstören. Die von den chinesischen Truppen verfolgte Taktik hatte für die Belagerten bisweilen auch Vorteile: Um ein characteristisches Beispiel chinesischer Kriegführung zu geben, wurde die Ostmauer der französischen Gesandtschaft, welche 14 Fuß hoch und 1 1/2 Fuß dick war, in ihrer ganzen Länge durch Gewehrfeuer buchstäblich abgetragen, was lediglich den Erfolg hatte, dass die Chinesen selbst schließlich ihre Position [...] aufgeben mussten, weil sie nunmehr unserem Feuer ausgesetzt waren. Das einzige Mal, wo sie wirklich Terrain gewannen, war nach der Sprengung zweier Minen, welche den Rückzug des Detachements in die östliche Hälfte der französischen Gesandtschaft zur Folge hatte. Bei dieser Kampfesweise darf es auch nicht Wunder nehmen, dass die Verluste der Chinesen verhältnismäßig gering waren und im Ganzen die Zahl von 2 000 wohl nicht überstiegen.2"5 Die Beschießung der Gesandtschaften war bis Mitte Juli mit unverminderter Heftigkeit fortgesetzt worden. Erst als die Truppen der kooperierenden Mächte am 13./14. Juli die Chinesenstadt von Tianjin eingenommen hatten, nahmen die Förderer der Yihetuan wieder Kontakt mit den Eingeschlossenen auf. Die Schreiben, die mit „Prinz Qing und andere“ unterzeichnet waren, wurden auch von Rosthom der Gruppe um den Prinzen Duan und um die Kaiserin-Witwe zugerechnet: [...] ich war jedoch von Anfang an überzeugt, dass Prinz Ch’ing nichts damit zu thun hatte, dass die Schreiben vielmehr von unseren Feinden ausgingen und darauf berechnet waren, uns in eine Falle zu locken. Es war gewiß ganz zweckmäßig, die Correspondenz in unverbindlicher Weise und dilatorischer Absicht aufzunehmen, doch bin ich stets dafür eingetreten, dass die Antworten weder im Namen des diplomatischen Corps, noch in officieller Form abzufassen wären.206 HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 3/2. Serie, Shanghai, 10.9.1900. Ebenda. Vgl. dazu auch Winterhaider (1902), S. 308 f., S. 314, S. 346 f, S. 350, S. 353, S. 358 und S. 364. - Zu diesem Briefwechsel vgl. FRUS 1900, S. 177-186 (Inclosure S. 22-41 zum Bericht No. 395 Congers an Hay vom 17.8.1900). - Prinz Qing schrieb später diese in seinem Namen geführte Korrespondenz Prinz Duan und Zhao Shuqiao zu. Vgl. ANCP, Protocole No. 2 (5.2.1901). 80