Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
gerettet noch das Archiv der Gesandtschaft sicher verwahrt werden, auch die Privateffekten mussten zurückgelassen werden21": In einem dichten Kugelregen mußten wir flüchten. Jeder nur mit einem kleinen Sack mit einigen Kleidungsstücken am Rücken, und von unserer ganzen Habe konnten wir gar nichts retten, wie die Bettler zogen wir ab. Den ganzen nächsten Tag [d. h. am 21. Juni] konnten wir sehen, wie die Kerle plünderten, große Bündel mit Sachen wegschleppten und dann endlich die schönen neuen Häuser in Brand steckten.202 In ihren Besprechungen vor dem eigentlichen Beginn der Belagerung hatten die einzelnen Detachement-Kommandanten vereinbart, dass allenfalls zurückzuziehende Truppen einer Gesandtschaft das Detachement der nächstgelegenen Gesandtschaft verstärken sollten. Ab dem Abend des 20. Juni nahm somit das k. u. k. Marine-Detachement an der Verteidigung der französischen Gesandtschaft teil. Am 23. Juni 1900 hatte sich die Verteidigungslinie „auf die 7 Gesandtschaften reducirt, welche in der Legationsstrasse und am Kaiser-Canal mehr oder weniger compact neben einander liegen.“ Zudem verteidigten italienische und japanische Matrosen - später von je fünf Österreichern und Franzosen unterstützt - auch das verlassene Palais des Prinzen Su (in den Berichten der Belagerten meist als Suwangfu bezeichnet), in dem mehr als 1 000 chinesische Christen untergebracht worden waren.203 Die mit Waffen ausgerüsteten Yihetuan wurden bei der Belagerung der Gesandtschaften massiv von regulären Qing-Truppen unterstützt. Neben den unter dem Kommando von Dong Fuxiang stehenden Gansu-Trappen beteiligten sich auch Einheiten der mit modernsten Waffen ausgerüsteten und Ronglu als Oberkommandierendem unterstehenden Wuwei-Tmppen: Ihre Positionen waren durch Fahnen gekennzeichnet, welche die Namen des Corps, Flügels, Bataillons und des jeweiligen Commandanten trugen. Die Boxers, welche im Anfangsstadium, wie bereits erwähnt, nur mit Säbeln und Lanzen bewaffnet waren, waren nunmehr organisirt und mit den neuesten Gewehren, Mannlicher-Carabinern der österreichischen Waffenfabrik in Steyr ausgerüstet.204 Rosthorn war davon überzeugt, dass die militärischen Anstrengungen der Chinesen damals auf die Vernichtung der Belagerten abgezielt hatten: Wenn gleichwohl Militär und Boxers vereint mit der Handvoll bewaffneter Europäer, welche in Peking eingeschlossen war, nicht fertig wurden, so liegt dies gewiss nicht daran, dass der Regierung der gute Wille hiezu gefehlt, oder dass sie sich in Bezug auf die Mittel wählerisch gezeigt hätte, - denn es ist schwer, sich neben der Beschießung mit Kanonen, Gewehren und Brandraketen, neben Minirung und Aushungerung noch andere Kampfmittel auszudenken, - sondern daran, dass die chinesischen Truppen, mit Ausnahme der europäisch gedrillten Compagnien, welche sich bei Tientsin sehr gut Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (11. Serie), Peking, 20.8.1900. Briefe der Frau von Rosthom In: Fremden-Blatt, Nr. 296 vom 28.10.1900, Morgenblatt, S. 2. Zur Lage dieser Gebäudekomplexe vgl. Arlington, Le w i s o h n , ND 1987, S. 13. HHStA, P.A. XX1X/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 3/2. Serie, Shanghai, 10.9.1900. - Zu den an der Belagerung beteiligten chinesischen Truppen vgl. Liu Fenghan (1978), S. 654 f. (Übersicht), zu deren Rolle in den Kämpfen ebenda S. 706-714 und S. 718-728. - Vgl. auch Esherick (1987), S. 307. 79