Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Minister geneigt wären, das diplomatische Corps zu empfangen. Nachdem dieser Vorschlag angenommen und beschlossen worden war, die Antwort um 10 Uhr in der Wohnung Baron Kettelers entgegenzunehmen, gingen die Gesandten auseinander.193 Eine Viertelstunde nach dem Ende der Sitzung des diplomatischen Korps begegnete Rosthom den chinesischen Reitknechten (mafu) der deutschen Gesandtschaft, „welche vom Yamen in Carrière zurückkamen und mir schon von Weitem zuriefen, der Gesandte sei ermordet worden.“ Die Details des Tatherganges erfuhren die von Rosthom verständigten diplomatischen Vertreter erst später von Heinrich Cordes, dem Ersten Dolmetsch der deutschen Gesandtschaft. In seinem Bericht gab Rosthom die folgende Schilderung: Baron von Ketteier war in einer Sänfte und in einer zweiten Sänfte folgte Herr Cordes. In der östlichen Hauptstrasse, unweit der Ecke, wo man auf der Yamen-Straße einbiegt, bemerkte Cordes, wie einige Soldaten von Tung-Fu-hsiang’s Brigade aus einer Polizeistube herauskamen, im Anschläge auf die erste Sänfte zugingen und feuerten. Er sah, wie sein Chef vornüber aus der Sänfte fiel und anscheinend todt liegen blieb. Cordes selbst hatte seine Sänfte niederstellen lassen und sich von seinem Sitze erhoben, als ihm eine Kugel durch die Hüfte drang. Er sprang nun eiligst heraus, lief unter heftigem Feuer trotz seiner Verwundung einige hundert Meter zurück und rettete sich in ein Haus der amerikanischen Mission, von wo er später in das Lazareth der englischen Gesandtschaft gebracht wurde.194 Die Nachricht sorgte unter den seit Tagen in Beijing eingeschlossenen Ausländem für eine „allgemeine Panik“. Der Plan einer Abreise, die „zweifellos für alle verderblich gewesen wäre“, wurde sofort aufgegeben. Rosthom neigte der Ansicht zu, dass sich die Ermordung des deutschen Gesandten quasi „als eine Rettung für die ganze Colonie“ erwiesen hätte und dass man in den Gesandtschaften von diesem Zeitpunkt an „auf das Schlimmste gefaßt sein mußte.“ Angesichts dieser Lage fragte der stellvertretende Generalinspektor der Seezölle, Robert Bredon, bei Rosthom an, ob man auf österreichisch-ungarischer Seite entschlossen sei, den Komplex der k. u. k. Gesandtschaft unter allen Umständen zu halten, da es hievon abhängig gemacht werden müsse, ob das Personale der Customs das zwischen unserer und der französischen Gesandtschaft gelegene Zoll-Inspectorat vertheidigen oder räumen solle. FK Thomann erklärte Bredon in Rosthoms Gegenwart, dass die Gesandtschaft wegen ihrer Ausdehnung, isolirten Stellung und Entfernung von den anderen Legationen, ferner wegen der geringen Stärke des Detachements gegen militärische Angriffe nicht gehalten werden könne. Wie Rosthom berichtete, beschlossen Hart und Bredon, sich mit dem Personal der Imperial Maritime Customs in die britische Gesandtschaft zurückzuziehen.195 Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China 193 HHStA, P.A. XX1X/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (II. Serie), Peking, 20.8.1900. Zu Ketteier vgl. Per Fischer, Clemens von Ketteier. Ein Lebensbild aus amtlichen und privaten deutschen Quellen. In: Kuo, Leutner (1994), S. 333-357. 194 HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (11. Serie), Peking, 20.8.1900. - Cordes’ Bericht vom 4.7.1900 ist abgedruckt bei Hei nze (1901), S. 36-46. - Zur Beurteilung der Entwicklungen, die zur Ermordung Kettelers führten vgl. auch Feng-Djen D j a n g, The Diplomatie Relations between China and Germany since 1898, Shanghai 1936, S. 103-106. 195 HHStA, P.A. XXIX/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 2/II. Serie, Peking, 23.8.1900. 77

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