Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten
befanden und somit einer sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen nichts im Wege stünde.996 Am 23. August 1900 veröffentlichte die „Neue Freie Presse“ unter dem Titel „Eine chinesische Stimme über den ostasiatischen Conflict“ einen Brief, den Yang Ru am 4./17. August an Arthur Gundaccar Freiherm von Suttner geschrieben hatte, und in dem er die äußerst schwierige Situation des Qing-Reiches darlegte. Nach dem Urteil der Redaktion versuchte Yang Ru „dem im gegenwärtigen Zeitpunkte doppelt begreiflichen Wunsche der Chinesen nach baldigem Friedensschluß“ Ausdruck zu verleihen und auch die Ursachen der Unruhen zu analysieren. Der Gesandte meinte, dass einst von der Friedensbewegung „das Licht ausströmen“ werde, „und es wird ein Funke genügen, um für immer den Leuchtthurm des Friedens zu entzünden.“ Yang Ru schrieb, dass er im Laufe seiner diplomatischen Verwendungen und auf seinen Reisen viel über Heerwesen, Handel und Ackerbau gelernt und auch die positiven Seiten der Staatsverwaltungen studiert habe. Er erkannte „Rivalität und Eifersüchtelei“ unter den Völkern als Ursache für internationale Verwicklungen. Uber die Intervention der Mächte zur Unterdrückung der Unruhen in China meinte der chinesische Diplomat: Der Conflict, welcher gegenwärtig zwischen China und den fremden Mächten besteht, hat größtentheils seinen Ursprung in gegenseitigen Mißverständnissen. Ich bin fest überzeugt, daß weder China noch sonst eine der Mächte ihre guten Beziehungen gänzlich abbrechen wollen; die Dinge sind soweit getrieben worden in Folge der Nachlässigkeit der chinesischen Functionäre und Dank den durch Ehrgeiz verblendeten militärischen Parteien. Es wäre höchste Zeit, die in den Beziehungen zwischen China und den Mächten aufgetretenen Missverständnisse auszuräumen, geschähe dies nicht so würde nicht nur China dem größten Elend preisgegeben sein, sondern es könnten daraus auch noch internationale Kämpfe entstehen, was jedenfalls gegen das Interesse der ganzen Menschheit wäre. Yang Ru vertrat die Ansicht, daß die Yihetuan-Bewegung vor allem durch den „Haß, den das chinesische Volk den Christen geschworen hat, ausgelöst worden sei. Die Chinesen wollten „um nichts in der Welt die Religion aufgeben, die ihnen von ihren Vätern kommt, um eine andere anzunehmen, welche ihnen vollkommen fremd ist.“997 Lamsdorff teilte Aehrenthal Anfang September mit, dass er Yang Ru telegraphisch dazu aufgefordert habe, „in seiner Berichterstattung keinen Zweifel an dem ferneren aufrichtigen Zusammenwirken Russlands mit den Mächten aufkommen zu lassen.“99* Am 18. September übermittelte Yang Ru der k. u. k. Botschaft in St. Petersburg ein Telegramm des Prinzen Qing, das die Flucht des Qing-Hofes rechtfertigte und in dem der Prinz anzeigte, gemeinsam mit Li Hongzhang vom Hof ermächtigt Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China ... Ebenda, Aehrenthal an MdÄ, Telegramm No. 87 (No. 7 327, Chiffre), Petersburg, 20.8.1900. „Eine chinesische Stimme über den ostasiatischen Conflict“. In: NFP, Nr. 12 931 vom 23.8.1900, Morgenblatt, S. 2. - Auszugsweise Wiedergabe unter dem Titel „Die Schuld der Missionäre“ in: Arbeiter-Zeitung, Nr. 232 vom 24.8.1900, Morgenblatt, S. 2. HHStA, P.A. XXIX/20, Aehrenthal an Gotuchowski, Bericht No. 61 Vertraulich, St. Petersburg, 1471.9.1900. 285