Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten
Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China ... werden könnte. Calice berichtete auch von der Tendenz einiger Beobachter, dass die Unruhen in China auch im Osmanischen Reich „die Gefahr der Ermuthigung zu neuen Excessen gegen die indigenen Christen und sogar die fremden Bewohner in sich berge.“ Diesen Pessimismus wollte der k. u. k. Botschafter nicht teilen: Die Türken müssen denn doch auch empfinden, wie verschieden die Verhältnisse hier und in China liegen. [...] Hier die unmittelbare Nähe der größten Militärmächte, dort die Trennung durch Oceane! Mit einem Worte, der Racheengel steht hier an der Thür und dort weit, vielleicht zu weit ab, um zur Vollziehung seines Werkes noch rechtzeitig kommen zu können. Calice, dem zu seiner persönlichen Information vom Ministerium des Äußern auf die Krise in China bezügliche Aktenstücke zugesandt wurden872, prognostizierte lediglich, dass das Selbstbewusstsein der führenden osmanischen Kreise durch die Vorgänge in China noch gestärkt werden und auch die „Megalomanie an höchster Stelle“ neue Impulse erhalten könnte.873 Calice wurde am 24. August von Sultan Abdulhamid II. in Audienz empfangen. Der Sultan brachte im Laufe der Audienz auch die Lage in China zur Sprache, fragte Calice um dessen Eindrücke „und erzählte, dass Er die Absicht hätte, 10 000 Mann von Seinen Truppen dorthin zu senden, und unter das Deutsche Commando zu stellen“ und dass er dieses Angebot dem deutschen Kaiser bereits gemacht habe. Sein Angebot war sogar so weit gegangen, diese osmanischen Truppen „vorübergehend mit dem deutschen Gewehre zu bewaffnen, um den Munitions- Nachschub zu vereinfachen.“ Dieser Plan wäre jedoch „an der Schwierigkeit der Approvisionirung“ gescheitert. Angesichts der latenten finanziellen Krise des Osmanischen Reiches schien es Calice „absolut unerfindlich“ wie man von osmanischer Seite die Kosten einer solchen überseeischen Expedition hätte bestreiten wollen. Calice vermutete, dass man in Berlin „in richtiger Würdigung dieser Verhältnisse“ auf das osmanische Anerbieten nicht eingegangen war. Der Sultan habe sich schließlich noch dafür ausgesprochen, dass man einer einzigen Macht - Calice wollte dahinter osmanische Sympathien für das Deutsche Reich sehen - das Mandat nicht nur für den militärischen Oberbefehl, sondern auch für die politische und administrative Arbeit „bis zur Erreichung eines bestimmten Zieles“ übertragen sollte. Calice meinte, dass es äußerst schwierig sei, alle Mächte zur Annahme dieses Planes zu bewegen und zweifelte, dass die „dafür auserwählte Macht“ auch zur Durchführung dieser Aufgabe bereit wäre - vor allem angesichts 872 Vgl. dazu HHStA, P.A. XXIX/18, MdÄ an Calice, No. 199 Streng vertraulich, Wien, 14.7.1900. - Zur Rückstellung der Akten vgl. ebenda, Calice an Gotuchowski, Bericht No. 31 A-H, Jeniköj [Yeniköy], 18.7.1900. 873 HHStA, P.A. XII/173, Calice an Gotuchowski, Bericht No. 30 B, Jeniköj [Yeniköy], 11.7.1900. - Im Laufe des Juli wurden Gerüchte über Proteste des Osmanischen Reiches gegen die Aktion der Mächte in Umlauf gesetzt und bald wieder dementiert. Vgl. dazu NFP, Nr. 12 897 vom 20.7.1900, Morgenblatt, S. 5 (Privatnachrichten aus Berlin über angebliche osmanische Proteste); zum Dementi vgl. „Die Türkei und China.“ in: ebenda, Nr. 12 898 vom 21.7.1900, Abendblatt, S. 3. 253