Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

Nachrichten beruhen aber nur auf Gerüchten, deren Glaubwürdigkeit zu prüfen man nicht in der Lage ist. Als Beispiele für die widersprüchliche Berichterstattung der Nachrichtenagenturen nannte Deym die Gerüchte über die Situation des Qing-Hofes (Machtübernahme des Prinzen Duan) und über die Lage der Gesandten in Beijing (nach Berichten aus Shanghai war Seymour in Beijing eingerückt; eine Reutermeldung aus Yokohama berichtete von der Ermordung aller Gesandten und auch vom Tod Seymours): „Weder die eine noch die andere Nachricht ist bisher officiell bestätigt worden, und es liegt ebenso die erste wie die zweite im Bereiche der Möglichkeit.“ Angesichts dieser Nachrichten schien es Deym ratsam, die Krise objektiv zu beobachten: Auf alle Fälle ist die Sachlage eine ernste, aber sie würde eine höchst kritische, wenn thatsächlich eine Entthronung in Peking stattgefunden hätte und die Gesandten umgebracht worden wären. Man wagt es kaum hier einer solchen Eventualität ins Gesicht zu sehen, da die Consequenzen unabsehbar wären. Dass die Qing-Truppen in die Kämpfe um Tianjin eingegriffen haben sollten, hielt Deym für ein schlechtes Omen, da dadurch „die Situation eine wesentliche Verschlimmerung erfahren“ würde und die meistinteressierten Mächte vor einer Aufgabe stünden, „deren Lösung ihnen noch große Opfer auferlegen wird.“755 Deym gewann am 20. Juni den Eindruck, dass Salisbury „über die Verschlimmerung der Situation beunruhigt und gleichzeitig rathlos“ über jene Maßnahmen wäre, die ergriffen werden müssten, sollte die Qing-Regierung „eine direkt feindselige Elaltung gegenüber den fremden Mächten“ einnehmen. Deym hob positiv hervor, dass ihm die im Foreign Office und bei der Admiralität einlaufenden telegraphischen Nachrichten aus Ostasien „mit der grössten Bereitwilligkeit“ mitgeteilt würden. Diese Mitteilungen telegraphiere er umgehend nach Wien, obwohl man dort „das Meiste zwölf Stunden später durch die Tagespresse“ in Erfahrung bringen könne.756 Ende Juni zeigte man sich im Foreign Office über die Lage in China äußerst beunruhigt. Die Tatsache, dass Li Hongzhang von Guangzhou aus mit dem Qing- Hof in Beijing telegraphische Nachrichten austauschen konnte, während die Telegraphenlinie zwischen Beijing und der Küste unterbrochen waren, gab noch zusätzlich Anlass zu allerlei Spekulationen.757 Am 5. Juli meinte Deym, dass der von Lord Salisbury gezeigte Pessimismus angesichts der Vorgänge in China „kein ungerechtfertigter“ gewesen wäre. Allein das in allen wichtigen Fragen nach wie vor bestehende Einvernehmen unter den in China meistinteressierten Mächten sei beruhigend, wenn auch das Angebot der japanischen Regierung, Truppen nach China zu senden, diese Harmonie etwas getrübt hätte. Deym berichtete, dass er am 4. Juli von einem österreichischen Zeitungskorrespondenten - „der gewöhnlich nicht schlecht unterrichtet ist“ ­Georg Lehner - Monika Lehner HHStA, P.A. XXIX/17, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 36 A Vertraulich, London, 22.6.1900. 756 Ebenda, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 36 B Streng vertraulich, London, 22.6.1900. 757 Ebenda, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 37 A, London, 26.6.1900. 226

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