Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

Stelle der jetzigen Dynastie setzen könnten, daher ein Zusammensturz des chinesischen Reiches herbeigeführt werden könnte. Aus diesem Grunde sei er sehr gegen eine bewaffnete Intervention eingenommen, da ihm an der Erhaltung des Status quo sehr gelegen sei [,..].748 Während die ersten Telegramme noch vom Vorrücken der von Seymour geführten Kolonne berichteten, waren am 15. Juni schon ernüchternde Tatsachen bekannt geworden: Telegraphische Verbindung zwischen dem die internationalen Truppen befehligenden Admiral und Tientsin ist abgeschnitten und momentan soll jede Verbindung zwischen Peking und England unterbrochen sein.749 Am 16. Juni trafen in London besonders widersprüchliche Nachrichten ein: Am Nachmittag telegraphierte Deym die jüngsten in London eingelangten Nachrichten nach Wien. Am 13. Juni wären Gruppen der Yihetuan in Beijing einge­drungen und ein erster Angriff auf die Gesandtschaften wäre „durch oesterreichisch-ungarisches Maschinengeschütz glücklich zurückgeschlagen“ worden.750 Stunden später telegraphierte Deym Agenturmeldungen, wonach alle Gesandtschaften zerstört und der deutsche Gesandte getötet worden wäre.751 Am 19. Juni berichtete Deym über die Bestätigung der Einnahme der Forts von Dagu. Trotz des Erfolges der internationalen Truppen war zu diesem Zeitpunkt die telegraphische Verbindung mit Dagu bereits unterbrochen.752 Am 21. Juni telegraphierte Deym, dass in London „noch keinerlei authentische Nachricht“ über das Schicksal der Kolonne Seymour vorläge. Aus Shanghai waren Gerüchte verbreitet worden: Prinz Duan hätte den Guangxu-Kaiser getötet und die Kaiserin zur Flucht genötigt, um den Thron zu usurpieren.753 Am 22. Juni lagen dem Foreign Office weder aus Beijing noch über das Schicksal der Kolonne Seymour Nachrichten vor. Die eingelaufenen Meldungen sprachen von heftigen Kämpfen in Tianjin. Russen, Engländer und Deutsche hätten Verluste erlitten. Auch die chinesischen Truppen hätten schwere Verluste zu beklagen.754 In seinen Telegrammen versuchte Deym, die Situation auch dadurch zu illustrieren, indem er wiederholt widersprüchliche Meldungen gegenüberstellte. Er war bestrebt, trotz des latenten Informationsdefizits eine Analyse der Ereignisse und der zum Großteil auf Gerüchten basierenden Agenturmeldungen zu liefern. So schrieb er etwa am 22. Juni: Seit zwei Tagen laufen von Shanghai und von Japan die sensationellsten Nachrichten über die Ereignisse in China ein, die zum Theile ganz widersprechend lauten. Diese Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China ... Ebenda, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 33 C, London, 12.6.1900. 749 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 36 recte 37 (No. 2 757, Chiffre), London, 15.6.1900. 750 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 37 recte 38 (No. 3 347, Chiffre), London, 16.6.1900. 751 HHStA, P.A. XXIX/17, Deym an MdÄ, Telegramm, No. 39 (No. 4 233, Chiffre), London, 16.6.1900. 752 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 40 (No. 8415, Chiffre), London, 19.6.1900. 753 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 43 (No. 568, Chiffre), London, 21.6.1900. 754 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 46 (No. 3 267, Chiffre), London, 22.6.1900. 225

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