Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

Georg Lehner - Monika Lehner keiner Weise verbessert“. Im Foreign Office vertrat man aufgrund aus China eingelangter Nachrichten die Auffassung, dass die Gesandten in Beijing „keine imminente Gefahr“ befürchteten.743 Deym berichtete, dass die „Gesellschaft der Boxer [...] in Peking viele Freunde haben“ soll „und selbst von der Kaiserin im Geheimen unterstützt“ werde. So schien ihm auch die „Gefahr eines Gemetzels aller Ausländer“ im Bereich des Möglichen zu liegen. Der Haltung der chinesischen Regierung Ausländem gegenüber könne man „keineswegs mehr sicher sein“, da mehrere Generäle in letzter Zeit ihrer Kommanden verlustig gegangen wären. Die nunmehr der Kaiserin- Witwe nahe stehenden Generäle hätten es jederzeit in der Hand, über Leben und Tod der Ausländer zu entscheiden, „wodurch eine Katastrophe in China leicht herbeigeführt werden könnte.“744 Deym erkannte rasch die Probleme, die eine kontinuierliche Berichterstattung über die Vorgänge in China mit sich brachte: Es ist sehr schwierig aus den verschiedenen zum Theile sich widersprechenden Nachrichten die aus China einlaufen, sich ein klares Bild über die dortige Situation zu machen. Im Foreign Office war man noch am 12. Juni der Meinung, dass die nach Beijing entsandten Marinedetachements für die Sicherheit der Gesandtschaften vollkommen genügen würden. Angesichts der Duldsamkeit, die der Qing-Hof der aufständischen Bewegung gegenüber demonstrierte, bezweifelte man in London allerdings, ob die chinesische Zentralgewalt auch außerhalb von Beijing „die Macht und den ernsten Willen“ haben werde, „den Fremden und den eingeborenen Christen wirksamen Schutz angedeihen zu lassen“. Deym erfuhr im Foreign Office, dass in Paris und St. Petersburg die Lage in China „minder ungünstig“ beurteilt werde. Aus entsprechenden Erklärungen des französischen Außenministers Delcassé schloss er jedoch, dass man sich in Paris „über den Emst der Sachlage keiner Täuschung hingibt.“745 Am 12. Juni meinte Deym, dass „bisher ein einmüthiges Vorgehen der Mächte wahrzunehmen ist.“746 Noch am selben Abend telegraphierte er die Nachricht, dass eine internationale Truppenmacht unter Kommando des britischen Vizeadmirals Seymour von Tianjin aufgebrochen sei.747 Eine bewaffnete Intervention der Mächte barg in den Augen der britischen Diplomatie eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Stabilität des Chinesischen Reiches: Lord Salisbury fügte hinzu, dass ihm eine derartige Intervention mit einem Sturze der Dynastie gleichbedeutend erscheine, da er die Überzeugung hätte, dass die Chinesen eine Dynastie, die sich eine solche Intervention der fremden Mächte gefallen Hesse, nicht mehr auf dem Throne dulden würden. Es sei aber niemand da, den die Mächte an 743 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 31 (No. 1 408, Chiffre), London, 8.6.1900. 744 Ebenda, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 32 B, London, 8.6.1900. 745 HHStA, P.A. XXIX/17, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 33 B, London, 12.6.1900. 746 Ebenda, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 33 B, London, 12.6.1900. 747 Ebenda, Deym an MdÄ, Telegramm No. 35 (No. 7 778, Chiffre), London, 12.6.1900. 224

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