Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Haltung der Mächte zu den Ereignissen in China im Spiegel der Berichte Österreichisch-Ungarischer Diplomaten

DIE HALTUNG DER MACHTE ZU DEN EREIGNISSEN IN CHINA IM SPIEGEL DER BERICHTE ÖSTERREICHISCH­UNGARISCHER DIPLOMATEN Die Verschärfung der Situation in der Umgebung von Beijing und die Unterbrechung der telegraphischen Verbindung zwischen Beijing und Tianjin führte in den Staatskanzleien der europäischen Mächte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der politischen Lage in China. Auch für Österreich-Ungarn ist diese Tendenz an der zwischen den k. u. k. diplomatischen Vertretungen und dem Ministerium des Äußern ab Ende Mai geführten Korrespondenz zu konstatieren. Zu Beginn der Krise in China dürfte man im Ministerium des Äußern vor allem den Berichten und Telegrammen der k. u. k. Vertretungen in Berlin und Rom besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. In Berlin erhoffte man sich zunächst durch ein solidarisches Vorgehen der Mächte die Eindämmung des Aufstandes im Raum Beijing und die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität Chinas.739 Der italienische Außenminister Visconti-Venosta sah in der Einigkeit der Mächte die einzige Garantie dafür, dass die Krise in China ohne Rückwirkungen auf die Konstellationen der europäischen Politik bleiben werde.740 Die Mächte auf der Suche nach einer gemeinsamen politischen Linie Die k. u. k. Botschaft in London: Nachrichten aus erster Hand? Österreich-Ungams Botschafter in London, Franz Graf Deym von Stritez, berichtete am 29. Mai 1900 über die Einschätzung der politischen Situation durch Lord Salisbury. Die Zuspitzung der Lage in China, vor allem „die täglich zunehmende feindselige Stimmung der Eingeborenen gegen alle Fremden“ gab Salisbury Anlass zur Sorge. In London hielt man es trotz der Entsendung von Marinedetachements für „ganz unmöglich“, alle in China lebenden Fremden wirksam zu schützen, wenn die Qing-Regierung nicht bereit sei, diesen Schutz zu gewähren. Wie Deym schrieb, schätzte Salisbury die Sachlage „recht ernst“ ein und hatte „die Hoffnung auf eine Regeneration China’s aufgegeben.“ Der Zerfall des Chinesischen Reiches war für Salisbury „nur eine Frage der Zeit.“741 Am 31. Mai 1900 zeigte man sich im Foreign Office über die Lage in China bereits äußerst besorgt.742 Eine Woche später klangen die aus China eintreffenden Nachrichten weiterhin ernst, die Sachlage hatte sich nach den Worten Deyms „in 739 HHStA, P.A. XXIX/17, Giskra an MdÄ, Telegramm No. 85 (No. 1 048, Chiffre), Berlin, 14.6.1900. 740 Ebenda, Pasetti an Gotuchowski, Bericht No. 28, Rom, 13.6.1900. 741 HHStA, P.A. VIII/124, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 31 A-B, London, 29.5.1900. 742 HHStA, P.A. XXIX/17, Deym an MdÄ, Telegramm (No. 8 948, Chiffre), London, 31.5.1900. 223

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