Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Österreich-Ungarn und der Beginn des Internationalen Engagements zur Unterdrückung der Unruhen in China

Georg Lehner - Monika Lehner Österreichische Meinungen zur Lage in China nach dem Entsatz der Gesandtschaften Eine zufrieden stellende Regelung der Beziehungen der Staatengemeinschaft zum Qing-Reich stand nach dem Entsatz der Gesandtschaften in Beijing erst an ihrem Anfang. Die durch die Besetzung der chinesischen Hauptstadt entstandene Situation wurde allgemein als kompliziert empfunden. Die bis Mitte August von allen Seiten hochgehaltene „Interessensharmonie“ war durch erste Misstöne getrübt worden. Der k. u. k. Gesandte in Washington, Ladislaus von Hengelmüller, meinte am 6. Oktober 1900 in einem Privatschreiben an den k. u. k. Botschafter in St. Petersburg, Alois Lexa Freiherr von Aehrenthal: Das chinesische Problem wird immer verworrener. Uns kann es Wurst sein, ebenso die Harmonie der Mächte. Ich sehe gar nicht ab, was für ein Interesse wir daran haben können, daß alle Mächte in China in voller Eintracht an der Ausdehnung ihres Handels und Einflusses arbeiten. Im Gegenteile [sic!] ist es für uns besser, je mehr sie sich dort festfahren und mit je scheeleren Augen sie sich ansehen. Und hiefür ist ja auch alle Aussicht vorhanden.546 Dass sich Österreich-Ungarn aus der Krise in China sowohl diplomatisch als auch militärisch weitgehend „heraushalten“ könne, hatte schon Anfang August auch Aehrenthal äußerst positiv beurteilt: Wir stecken hier tief unter den durch die chinesischen Wirren geschaffenen Präokkupationen. Es herrscht große Konfusion und noch größeres Mißtrauen. Eine sonderbare Kriegführung, wo man den sogenannten Freund mehr fürchtet als den Gegner, den man zu bekämpfen ausgezogen ist. Ein Glück, daß wir fern vom Schuß bleiben.547 Nach dem Beispiel der übrigen Mächte sah auch die k. u. k. Regierung Ende August noch keine Veranlassung mit der Qing-Regierung in Verhandlungen einzutreten. Zuvor müsse garantiert sein, dass jedes von den chinesischen Bevollmächtigten ausverhandelte Abkommen vom Qing-Hof auch anerkannt und umgesetzt würde.548 Inmitten der von den Kabinetten geführten Diskussion des russischen Zirkulars vom 25. August (das die Räumung von Beijing vorschlug) betonte Goluchowski noch am 17. September, dass Österreich-Ungarn „als die in China wenigst interessirte Macht“ mit den übrigen Mächten im Einvernehmen Aus dem Nachlaß Aehrenthal. Briefe und Dokumente zur österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1885-1912. In zwei Teilen, ed. Solomon Wank unter Mitarbeit von Christine M. Grafinger und Franz Adlgasser, Quellen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 6, Graz 1994, S. 227, Dokument Nr. 170 (Brief Hengelmüllers an Aehrenthal, Newport, 6.10.1900). Aloys Frh. Lexa von Aehrenthal an seinen Bruder Felix, St. Petersburg, 5.8.1900. - Zitiert nach: Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie unter besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes: Teil 2: Der Verfassungstreue Großgrundbesitz 1900-1904, Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 51/11, München 1991, S. 357, Nr. 706. Vgl. dazu FRUS 1900, S. 306 (Herdliska an Hay, Vienna, 24.9.1900). In Abwesenheit von Goluchowski und Lützow hatte der US-Geschäftsträger Herdliska am 24.9.1900 mit Emst Schmit von Tavera gesprochen, „who is now the ,referent’ or reporter upon Chinese affairs at the foreign office.“ 172

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