Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
Haarzöpfen bedeckt! [...] Kein Laub, kein Grashalm war zu sehen, alles war während der 72tägigen Belagerung als Nahrung benützt worden, bis auf die Rinde der Bäume!’96 Der Wiederaufbau sollte sich jedoch äußerst langwierig gestalten, da erst ab September 1901 (nach dem Abzug der fremden Truppen aus Beijing) die Handwerker wieder in die Hauptstadt zurückkehrten. Erst ab März 1902 waren für den Aufbau des Waisenhauses wieder Handwerker verfügbar: Alles mußte neu gemalt und gestrichen werden, denn die armen Flüchtlinge die bei uns Zuflucht gesucht hatten, haben uns nach der Befreiung nur Schmutz und Ungeziefer zurückgelassen.’97 Am 8. August 1900 berichtete der aus Trient stammende Pater Jordanus Casagrande in einem Schreiben an das k. u. k. Generalkonsulat Shanghai über die Verfolgung der chinesischen Christen in seinem Missionssprengel: Diesem wurde das Haus demoliert, einem anderen die Hausthiere getödtet, einem dritten die Hausgeräthe geraubt, mehrere mußten sich von den Verfolgern loskaufen, und sehr viele wurden geschlagen und verwundet. Casagrande schrieb, dass er von den betroffenen chinesischen Christen bereits um Almosen gebeten wurde: Was kann ich aber thun, der ich selbst gar nichts gerettet habe, nicht einmal mein Brevier. Zudem ist noch niemand der Schuldigen bis jetzt arretiert, die Verfolgung geht noch vor sich und wir furchten, dass sie mit dem Raube christlicher Jungfrauen enden wird, wie das auch anderwärts schon geschah.396 397 398 Auch in den östlichen Gebieten der Provinz Jiangxi war es im Sommer 1900 zu christenfeindlichen Zwischenfüllen gekommen. Der dort wirkende P. Friedrich Sageder399 merkte an, dass die „Verfolgung nicht direct von den Boxern herkam“, meinte jedoch, dass die Situation in Nordchina und der weit verbreitete Fremdenhass die Ursachen dieser Unruhen wären. Sageder berichtete über die am 14. Juli in Jingdezhen ausgebrochenen Unruhen, die bald auf die ländliche Umgebung der für ihre Porzellanfabriken berühmten Stadt übergegriffen hatten.400 Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China 396 Ebenda. In: JKÖ 1902/11, S. 11; Schwester Wagensperg berichtete auch von der „Rückkehr des kaiserlichen Hofes nach Peking“ in JKÖ 1902/11, S. 12-14. 397 M.A. Wagensperg, Aus Peking. In: JKÖ 1902/IV, S. 6. 398 „Zerstörung der Missionen in China.“ In: JKÖ 1900/IV, S. 7 f. und S. 9. 399 Friedrich Sageder wirkte seit Sommer 1899 in Hekou im Osten der Provinz Jiangxi. Vgl. dazu JKÖ 1901/1, S. 25 - Pater Sageder schrieb Ende 1911 in einem Brief an das k. u. k. Generalkonsulat Shanghai, dass er elf Jahre zuvor „für einige Monate Instructor“ beim damaligen Amtsleiter Julius Pisko war. Nach dem Ende der Unruhen sei er wieder auf seinen Missionsposten in der Provinz Jiangxi zurückgekehrt. Vgl. HHStA, GA Peking, Kart. 94, Pater Sageder; P. Sageder an das k. u. k. Generalkonsulat Shanghai, China, Ho-kow-ki, 27.11.1911. Beilage zu: Bemauer an k. u. k. Gesandtschaft Peking, ZI. 3 895/11, Shanghai, 15.12.1911. - „Seit 1900 war ich im Frühjar [sic!] 1930 das erste Mal wieder im großen Welthafen Shang-hai. Welche Veränderungen seit 30 Jahren!“ Aus einem Briefe unseres österreichischen Mitbruders H. H. Franz [sic!] Sageder C. M. aus Hokow- ki, China, an den H. H. Visitator Dr. Karl Spiegl im April 1930.“ In: Vinzenzstimmen 5,8-9 (1930), S. 166. 400 Friedrich Sageder, Die Tage der Verfolgung (Aus Shanghai, China). In: JKÖ 1900/IV, S. 12-19. - Zur Porzellanindustrie in Jingdezhen vgl. Osterhammel (1989), S. 63-65. 129