Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
Georg Lehner - Monika Lehner Der in dem im Süden der Provinz Shandong gelegenen Rizhao tätige P. Georg Froewis musste seine Missionsstation am 29. Juni verlassen. Am 4. Juli traf er in Qingdao ein. Während des Sommers beteiligte er sich an zwei Rettungsaktionen für in Bedrängnis geratene Mitbrüder. Nach dem Ende der Unruhen übte Froewis für kurze Zeit eine Mittlerrolle zwischen den deutschen Truppen und der chinesischen Bevölkerung aus. Bischof Anzer hatte auf Ersuchen der deutschen Militärbehörden zehn seiner Missionare als Dolmetscher zur Verfügung gestellt, um weiteren Missverständnissen im Umgang mit der chinesischen Bevölkerung vorzubeugen.401 P. Josef Freinademetz hielt sich in den Sommerwochen des Jahres 1900 in den von der Yihetuan-Bewegung erfassten Gebieten der Provinz Shandong auf.402 * Österreichische Missionare über Ursachen und Bedeutung der Unruhen des Jahres 1900 Dass durch die „chinesischen Wirren“ die Aufmerksamkeit der Welt nachdrücklich auf China gelenkt worden war, schrieb der in der Provinz Zhejiang tätige Lazarist Josef Wilfinger: Wie durch einen Zauberschlag wurde China in den Vordergrund der Tagesgeschichte gebracht, und täglich wächst die Spannung, mit welcher man den ernsten Gang der Ereignisse hierzulande verfolgt.401 Der Franziskanerpater Zeno Möltner, der im Laufe des Jahres 1900 wieder nach Europa zurückgekehrt war404, berichtete im Frühjahr 1901 eingehend über die Ursachen der Yihetuan-Bewegung. Die Niederlage des Qing-Reiches im Krieg gegen Japan hätte die Aufmerksamkeit der Mächte nach Ostasien gelenkt und gegen Japans Ansprüche auf die Halbinsel Liaodong, „welche als der Schlüssel zum eigentlichen China gelten kann“, war von Frankreich, Russland und Deutschland erfolgreich interveniert worden. China behielt Liaodong, sollte aber bald erfahren, wie hoch ihm die Intervention der Mächte zu stehen komme; dieselben warteten nur auf eine günstige Gelegenheit, sich die Kosten für ihre Mühe theuer zahlen zu lassen. Möltner beschrieb sodann das von den Mächten begonnene Feilschen um Einflusssphären in dem „durch den unglücklichen Krieg geschwächten und innerlich vielfach faulen chinesischen Riesenreiche“. Der Wettstreit der Mächte hätte mit der Besitzergreifung der Bucht von Jiaozhou durch das Deutsche Reich seinen Anfang genommen. Möltner hatte erkannt, dass diese Entwicklung „auf die Bevölkerung Chinas niederdrückend wirken und die Abneigung gegen die gewaltthätigen Fremdlinge immer mehr“ entfachen hatte müssen: Vgl. dazu Zmarzl y , Macheiner (1960), S. 87-92. 402 Vgl. dazu Bornemann (1976), S. 321-341. 401 Josef W i 1 fi nger, Aus Tschekiang (China), ln: JKÖ 1901/11, S. 24. 404 Vgl. dazu die Mitteilung „Aus China heimkehrende österreichische Missionäre.“ In: Triester Tagblatt, Nr. 6 273 vom 5.9.1900, S. 1 über die Berichte in „Tiroler katholische[n] Blätter[n]“, wonach P. Zeno Möltner mit 17 Gefährten und drei Nonnen auf dem Weg von China in das Heilige Land begriffen wäre und wahrscheinlich in seine ursprüngliche Ordensprovinz nach Europa zurückkehren werde. 130