Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
wie vor eine direkte Verbindung mit den in Beijing eingeschlossenen diplomatischen Vertretern verweigere: „Es hat ganz den Anschein, als ob die chinesischen Machthaber die Absicht hätten, die Gesandten als Geiseln zu betrachten.“343 Wie vielfältig und teilweise auch widersprüchlich die den Konsularvertretem in Shanghai zugegangenen Nachrichten aus Beijing waren, zeigt Piskos Telegramm vom 6. August 1900: Der Kreismagistrat von Shanghai habe den Konsuln mitgeteilt, dass das Zongli Yamen die diplomatischen Vertreter nach Tianjin eskortieren wolle344; Pisko hatte jedoch in Erfahrung gebracht, dass der britische Gesandte Sir Claude Macdonald nicht das Risiko verantworten wolle, Beijing unter den herrschenden Umständen zu verlassen.345 Noch am 4. August war den Konsuln in Shanghai die direkte Korrespondenz mit den diplomatischen Vertretern in Peking verweigert worden. Zudem traf in Shanghai die Meldung von der Hinrichtung der beiden europäerfreundlichen Beamten Yuan Chang und Xu Jingcheng ein; diese Hinrichtungen bewertete Pisko als bedenkliches Symptom. Diese Einschätzung wurde auch von Li Hongzhang und Sheng Xuanhuai geteilt. Vor dem 8. August wurden die Konsuln informiert, dass ein kaiserliches Dekret gestatte, in claris abgefasste Telegramme an die fremden Vertreter in Beijing zu richten. Dass die Aussicht, von den Eingeschlossenen eine Antwort zu erhalten, berechtigt war, bewies eine chiffrierte Nachricht der japanischen Gesandtschaft, die besagte, dass die Europäer am 1. August noch am Leben waren, die Gefahr weiterer Angriffe der Belagerer jedoch nicht ausgeschlossen werden könne: „[...] und habe ich in Folge dessen sofort einen abermaligen Versuch gemacht, mit Herrn von Rosthom in directe Verbindung zu treten.“346 In Shanghai selbst und im Einzugsbereich des Changjiang herrschte in jenen Tagen „eine tiefgehende Erregung“, nachdem der britische Vizeadmiral Seymour den dortigen chinesischen Behörden angezeigt hatte, zum Schutz der in Shanghai lebenden Europäer dort ein größeres britisches Detachement landen zu wollen. Am 10. August telegraphierte Pisko die Nachricht von der bevorstehenden britischen Landung nach Wien und schloss mit den Worten: Behufs Wahrung internationalen Charakter Shanghai’s erachtet deutscher, italienischer, russischer, französischer College und ich Entsendung Detachements angezeigt.347 Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China HHStA, P.A. XXIX/19, Pisko an Gotuchowski, Bericht No. LXXXIII, Shanghai, 3.8.1900. HHStA, P.A. XXIX/14, Pisko an MdÄ, Telegramm No. 6 770, Chiffre?, Shanghai, 6.8.1900. HHStA, P.A. XXIX/19, Pisko an Gotuchowski, Bericht No. LXXXVI Polit., Shanghai, 8.8.1900. Nach Pisko war auch Li Hongzhang der Ansicht, dass die Reise nach Tianjin mit Frauen und Kindern zu gefährlich wäre. HHStA, P.A. XXIX/19, Pisko an Gotuchowski, Bericht No. LXXXVI Polit., Shanghai, 8.8.1900. HHStA, P.A. XXIX/14, Telegramm No. 2 850, Chiffre, Pisko an MdÄ, Shanghai, 10.8.1900. - Die von Pisko telegraphierte „Erregung“ war jedoch nur von kurzer Dauer. Montecuccoli schrieb nach seinem Besuch Anfang September: „Von der weitgehenden Erregung, welche im Yangtse-Gebiete entstand, als Vice-Admiral Seymour dem Vice-König von Nanking anzeigte, dass er eine grössere Truppenmacht in Shanghai zum Schutze der europäischen Niederlassungen landen werde, ist 113